Einmal hatte ich mit der Zweiten Klasse ausprobieren wollen, ob es biblischer Unterricht leisten kann, das stabile Fundament einer glaubhaften Perspektive der Hoffnung zu betonieren.
Ich war mir ziemlich sicher, daß, wenn sich über den Anknüpfungspunkt interpersonalen Geschehens ein Begegnungsraum öffnen würde, in dem dann ein Begegnungsprozess begönne, bei dem die Mädchen und Jungen teilnehmende Subjekte sowohl an der gegenwärtigen als auch an der biblisch überlieferten Wirklichkeit sein könnten, daß dann grundsätzlich kontinuierliche Wirklichkeitsentsprechung der biblisch überlieferten Wirklichkeit – und damit die als Bedingung der Möglichkeit erweiterter Problemlösungskompetenz erkannte glaubwürdige Perspektive der Hoffnung – gegeben wäre.
So hatte es jedenfalls in den Powerpointfolien gestanden, die ich im Internet gefunden hatte, und ich selbst hätte es nicht besser sagen können.
Denn wenn ich auch meine Zweifel hatte, ob die Möglichkeit zu Empathie und Solidarität als Handlungsalternative nicht nur erkennbar, sondern im Unterrichtsgeschehen durch Ermutigung und Stärkung der Kooperationsbereitschaft auch erlebbar sein würde, und somit übertragbar in den Kontext eigener gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeiten, so konnte ich es mir aber doch sehr nett denken, wenn dann ein solcher biblischer Unterricht dem als “didaktisch notwendig” Erkannten und weiterhin der notwendigen Orientierung des Religionsunterrichts, mit dem er zwar nicht identisch gewesen wäre, aber doch ein wesentlicher Bestandteil desselben, an der biblischen Botschaft entsprochen haben würde.
Die teilnehmenden Subjekte
Es war dann nur leider so, daß die Kindlein in dieser Stunde ganz andere Vorstellungen von gegenwärtiger Wirklichkeit hatten als ich, und der Beginn der Stunde stand bereits unter dem dunklen Stern der alternativen Wirklichkeitsmöglichkeit, daß ich nämlich meiner Mappe mit den sorgfältig mit Buntstift ausgemalten Powerpointfolien verlustig ging, bzw. dieselbe als Wurfgeschoß einsetzen mußte. Aber der Reihe nach.
Denn als ich zu Anfang, wie immer, die Waffen einsammeln und in den Klassenschrank einschließen ließ, entging mir nicht, daß der Jakob des Ortsbürgermeisters ein Handy zurückbehielt und es, als ich ihn zu einer Stellungnahme aufforderte, der Anna-Lena in der Reihe hinter ihm zusteckte und ihr etwas zutuschelte.
Diese, nicht dumm, hob den Rock und steckte die Waffe in den Schlüpfer oder, was Gott verhüten möge aber wahrscheinlich nicht tun wird, in den String-Tanga, worüber ich mir aber kein Urteil erlauben kann, weil ich die Augen schloß und um Beistand bat, der aber ausblieb.
Da mich die beiden mit ihren abgefeimtesten Unschuldsgesichtern anleuchteten und betheuerten, mit ‚h‘, er, Jakob, habe kein Handy – wobei er die Ärmchen wie zur Kreuzigung erhob, wohl wissend, daß er damit die Möglichkeiten meiner erweiterten Problemlösungskompetenz aufs heftigste strapaziert -, und Anna-Lena, die falsche Schlange, mit dem durch tausende Frauengenerationen von Eva bis zu ihr herabgereichten Wimpernschlag kundtat, sie habe nichts im Höschen, und ich könnte, wenn ich wollte, gerne nachsehen.
Nachsehen tat ich statt dessen lieber, ob die Frau Kollegin vom Sport vielleicht noch im Hause war, oder schon im Hause war, das wußte man bei ihr nie so genau, und mir mit einer Leibesvisitation Amtshilfe würde leisten können, aber das Lehrerzimmer war verwaist bis auf den heftig an Nikotinentzug leidenden Germanistenfuzzi, der aber immerhin wußte, daß die Frau Kollegin vom Sport sich habe entschuldigen lassen, da sie mit Anna-Lena zum Hals-Nasen-Ohrenarzt habe müssen.
Der Begegnungsraum
Auf dem Rückweg zum Klassenraum fiel mir ein, daß mittlerweile das corpus delicti sich wahrscheinlich nicht mehr an dem Ort befand, an dem ich es zu vermuten gezwungen war, und daß es das ebenso wahrscheinlich auch dann nicht mehr gewesen wäre, wäre die Frau Kollegin vom Sport ausnahmsweise mal im Hause gewesen, und daß ich also die lieben Kleinen viel zu lange allein gelassen hatte, unnötigerweise, denn um das Handy wiederum in die Hände der Gangster gelangen zu lassen, hätte es genügt, wäre ich einmal kurz aus dem Klassenraum gegangen.
Beim Wiederbetreten desselben wurde mir denn auch wünschenswert deutlich vor Augen geführt, welchen groben Schnitzer ich mir geleistet hatte, denn der Jakob des Hals-Nasen-Ohrenarztes hatte meine Tasche geöffnet, die Folien ans Whiteboard geheftet, und stolzierte hinter dem Pult hin und her, und spielte, ein Headset, das er beim Waffensammeln verborgen gehalten haben mußte, im rechten Ohr, Powerpoint Karaoke, wobei ihm aber niemand zuhörte, jedenfalls nicht die Jakobs, die sich damit beschäftigten, aus den restlichen Folien extrem gleitfähige Fluggeräte herzustellen und an Ort und Stelle dem Verkehr zu übergeben, und die Anna-Lenas hatten sich über irgendwas zerstritten und in zwei feindliche Gruppierungen gespalten, deren eine – die Annas – der Theorie anhing, ein Handy, das „die Schlampe“ in der Hose gehabt habe, könne man nicht mehr anfassen, wohingegen die Lenas sich um das Argument „selber Schlampe“ scharten. Das Handy lag im übrigen in dem zum Überlaufen gefüllten Waschbecken, in dem sich auch mein Frühstücksbrot, der Apfel und der Marsriegel befanden, die ebenfalls in meiner Mappe gewesen waren.
Nachdem ich das Wasser abgestellt hatte, rettete ich den Apfel und den Marsriegel, gab Handy und Butterbrot verloren und besann mich kurz des Rhetorikseminars, in dem man uns gelehrt hatte, bei Erregung nicht mit Kopfstimme zu sprechen, sondern tief aus dem Brustkasten heraus zu argumentieren. Dann argumentierte ich, daß, wer bei drei nicht auf dem Platz sei, und zwar auf seinem Platz, daß der bei nächster Gelegenheit die Engel im Himmel singen hören könne, und wer das nicht glauben wolle, der sei herzlich eingeladen, es einfach mal auszuprobieren.
Perspektive der Hoffnung
Für die Zukunft, sagte ich dann, als es etwas ruhiger geworden war, nachdem ich die Annas und Lenas auseinander und jeweils einen Jakob als Puffer dazwischen gesetzt hatte, und nachdem ich meine Mappe wiedergeholt hatte, die ich nach einem besonders hartnäckigen Jakob hatte werfen müssen, für die Zukunft wollten wir es so machen, daß, wenn ich das Klassenzimmer beträte, die Handys bereits Seit an Seit auf dem Pult zu liegen hätten, und zwar in gleicher Stärke wie der Klassenverband. Wenn dem dann nicht so sein sollte, wollte ich sagen, als im Klassenschrank laut jemand furzte, und der Jakob des Herrn Superintendenten trotz Verbotes aufsprang, zum Klassenschrank lief, laut zeterte, das sei seine Mama, die ihm Bescheid sagen wolle, wann sie ihm sein Frühstück bringen wolle, das er zuhause vergessen habe, und der Jakob vom Ortsbürgermeister solle den Schlüssel rausholen, und er versuchte, an der glatten Schranktür irgendetwas zu finden, an dem er rütteln konnte, während es aus dem Schrank weiter furzte.
Wie wir unlängst auf einer Fortbildungsveranstaltung für Extrempädagogik erfahren hatten, handelt es sich bei Kindern um „Hüllenwesen“, die, wenn sie sich erstmal in etwas hineingesteigert haben, nur noch in der je eigenen kontinuierlichen Wirklichkeitsentsprechung leben, und wenn wir Pädagogen sie erreichen wollten, müßten wir ihre „Hülle“ durchdringen, was durch persönliche Ansprache mit Namensnennung, besser noch durch eine Hand auf der Schulter oder Ähnliches erreicht werden könnte.
Ich entschied, daß es auch mit Hilfe eines geworfenen Marsriegels möglich sein mußte, sofern der Schuß gut plaziert war und im Idealfall auf einen heftig resonnierenden Resonnanzboden traf, die Tür des Klassenschranks etwa.
Es funktionierte auch, und zwar umso besser, als im gleichen Moment das Furzen verstummte und auch nicht wieder anfing. Zwar jammerte der Jakob noch eine Weile rum, seine Mama mache sich Sorgen, wenn er nicht ans Telefon gehe, und er habe Hunger, und die Anna-Lena neben ihm maulte, das sei ein widerlicher Klingelton, und neben so einem wolle sie nicht sitzen, aber alles in allem war vergleichsweise himmlische Stille, und ich fügte hinzu, eines wollten wir in Zukunft auch noch beachten, nämlich daß die Handys, wenn sie aufs Pult gelegt würden, ausgeschaltet seien, als mein eigenes Handy Geh aus mein Herz und suche Freud zu spielen anhub.
Interpersonales Geschehen
Es war die Frau des Herrn Superintendenten, die sich, wie sie sagte, Sorgen um ihren Jakob mache, den sie auf dem Handy nicht erreichen könne, und der sein Frühstück vergessen habe, und der, da er so schmächtig sei, sehr schnell an Unterzuckerung leide und dann künstlich ernährt werden müsse, weswegen sie ihn dringend sprechen müsse, und es dauere auch nicht lange. Ich bat sie, sich doch bitte an den üblichen Weg zu halten, während der Stunde nur im Sekretariat anzurufen, verfluchte mich, daß ich in einem Anfall von Speichelleckerei so blöd gewesen war, ihrem Herrn Mann meine Handynummer zu geben, und bat sie noch einmal, sich keine Sorgen um ihren Jakob zu machen, dem gehe es gut.
Noch, fügte ich hinzu, als ich aufgelegt hatte, und der Jakob mit dem Schrei „Mama!“ auf den Lippen, aber Gott sei Dank zu spät, zum Pult gestürzt kam und mir das Handy entwinden wollte. Meinem Schöpfer dankend dafür, daß ich es nur mit Zweitklässlern zu tun hatte, schaltete ich das Handy aus, hielt des Hüllenwesens beide Hände mit der Linken, wobei ich darauf achtete, mit nicht zu festem, aber auch nicht zu schwächlichem Druck zu demonstrieren, daß ich, sollte mich die Not dazu zwingen, auch über konventionelle Problemlösungskonzepte verfügen würde, und sagte ihm, als seine Hülle durchbrochen war, er könne seine Mama nicht sprechen, die Mama sei geplatzt. Und apropos Platz: er solle sehen, daß er auf den seinen zurückkomme, und zwar ein bißchen plötzlich.
Seine Anna-Lena, die die Gelegenheit zur Flucht ergriffen und sich an einen der hintersten Tische verdrückt hatte, zitierte ich ebenfalls zurück, denn glaubhafter, sagte ich mir, als eine Perspektive der Hoffnung sei eine Perspektive der Hoffnung, die von einer Null-Toleranz-Strategie begleitet wurde.
Angesichts der Fortgeschrittenheit des Tages fand ich es nunmehr an der Zeit, ein bißchen Unterricht einzustreuen, und da meine Powerpointblätter als geschlagenes Geschwader am Boden lagen und schon reichlich betreten wirkten, würde es auf Frontalunterricht hinauslaufen müssen, was meinem pädagogischen Konzept zwar zuwiderlief, meiner Mordlust aber entgegenkam. Ich wählte die Dompteurspose, von der der Rhetoriktrainer gesagt hatte, wichtig sei die Atmung, ein Tiger merke es sofort, wenn der Dompteur flach atme oder mit Kopfstimme spreche oder sich zu häufig räuspere, alles drei Zeichen für den Tiger, daß die Gelegenheit für einen Rollenwechsel im Käfig günstig sei. Tief atmend, mit Bauchstimme sprechend und mir hin und wieder mit den Fäusten auf die Brust trommelnd, wobei ich in Baritonstimmlage brummte, was den Schleim von den Bronchien lösen soll, fing ich an.
Die Himmelsleiter
Ob sie, die Schäfchen, den Namen Jakob schon einmal gehört hätten? Blankes Nichtverstehen auf den Gesichtern deutete mir an, daß da etwas schief lief. Nun gut, die Fragestellung war verbesserungsfähig, speziell in dieser Klasse, aber das war noch lange kein Grund, derartig kretinös aus der Wäsche zu gucken. Ich probierte es mit Isaak. Keine Reaktion. D.h., ich hatte noch einen Versuch, wenn ich bis dahin nicht wenigstens einen Arm in der Luft hatte, würde ich die Aufmerksamkeit des Publikums verlieren. Abraham? Wir früher hätten Vader Abraham gekannt, aber die hier? Esau war als Name vollkommen daneben, den würden sie mir bloß verballhornen. Bethel? Könnte gehen, vielleicht hatte einer bei der Altkleidersammlung vor vier Wochen ausnahmsweise mal aufgepaßt.
Es meldete sich eine Anna-Lena. Der Jakob hinter ihr haue sie immer mit dem Lineal in den Nacken, und das zwicke so, weil daß Lineal nämlich einen Sprung habe. Ich konfiszierte das Lineal und klopfte mir den Schleim von den Bronchien. Ich würde aufpassen müssen, daß mir die Stimme nicht in den Kopf stieg, wie sie es bei erhöhtem Blutdruck leider tut. Himmelsleiter – schon mal gehört? Was ist eine Leiter?
Na endlich. Sieben Jakobs und sechs Anna-Lenas gehörten der Jugendfeuerwehr an. Leiterexperten allesamt. Bzw. die Mädchen nicht, wie der Jakob des Ortsbrandmeisters hervorhob, die spielten nur mit den Erste-Hilfe-Koffern. Die Mädchen dementierten und huben an, kränkende Vermutungen über die Männlichkeit namentlich genannter Feuerwehrleute zu kolportieren, wobei sie ihre Mütter, bzw. „jeden im Dorf“ als Autoritäten für diese überlieferte Wirklichkeit anführten. Ich untersagte das Ausstreuen bösartiger Gerüchte, insbesondere das über den Jugendbrandmeister, seine Mutter und seine Schäferhündin, für das der Jakob des Ortsbrandmeisters der betreffenden Anna-Lena sofort „eine verpuhlen“ wollte. Ich untersagte das Hauen von Mädchen und führte meinerseits „jeden“ als Autorität für diese Maxime gegen den Jakob ins Feld, was dafür sorgte, daß seine Zwillingsschwester Anna-Lena, mit der Begründung, sie sei ja kein Junge, auf die „Schlampe“ los ging.
Ich untersagte die Verwendung des Wortes „Schlampe“ und klopfte mir den Schleim von den Bronchien. Wäre es nach den Mädchen gegangen, wäre ich in dieser Frage überstimmt worden. Begründung: das sagten doch alle. Sie sagten das aber nicht, sagte ich, nicht in meinem Unterricht, und nicht, solange ich in der Klasse sei. Eine der schüchterneren Anna-Lenas, die sich immer nur so zaghaft meldet, daß man nicht weiß, ob sie sich an der Nase kratzt oder den Arm noch von letzter Woche her in der Luft hat, hatte sich wohl schon eine zeitlang gemeldet, war aber nicht in mein Aufmerksamkeitszentrum gedrungen. Als ich sie aufrief, überraschte sie mit dem Hinweis, ihr Nachbar, der Klavierlehrer, der habe drei Katzen, drei Kater, und einer dieser Kater, der mittlere, der heiße Isaak.
Ach, sagte ich erfreut, bzw. mit leicht schlechtem Gewissen, denn die Anna-Lena mußte den Arm ja schon seit meiner Isaak-Frage oben haben. Aber was hieß bei ihr schon oben.
Und die beiden anderen, ermunterte ich sie, wie die denn hießen? Abraham heiße der eine, der ganz alte, und der junge heiße Jakob. Sehr schön, sagte ich, sie möchte doch ein bißchen mehr erzählen, und nicht so schüchtern sein, es reiße ihr ja niemand den Kopf ab. Na?
Nein, mehr erzählen könne sie nicht, sie dürfe die Nachbarn nämlich nicht besuchen, weil ihre Mama gesagt habe, daß die Nachbarin eine Schlampe sei.
Ich würde ihr den Kopf abgerissen haben, ich bin sicher, daß ich ihn abgerissen haben würde, aber ein gnädiges Geschick hat mich vor dieser Sünde bewahrt. Das Klopfen an der Tür lenkte meine Aufmerksamkeit im richtigen Moment ab, und beinahe hätte der Apfel, den ich schon als Wurfgeschoß in der Hand hielt, Germanistenfuzzi getroffen. Der war gekommen, um mir mitzuteilen, daß die Frau Kollegin vom Sport im Sekretariat angerufen habe, nachdem sie es vergeblich auf meinem Handy probiert habe.
Ich solle unter keinen Umständen vergessen, daß ich Klein-Hapob aus dem Kindergarten holen müsse, weil sie mit Anna-Lena zum Hals-Nasen-Ohrenarzt gegangen sei und nicht rechtzeitig zurück sein werde.
Das hatte ich zwar momentan vergessen, aber es wäre mir schon noch wieder eingefallen. Ich wisse, sagte ich zu ihm, daß meine Frau beim Arzt sei und ich unseren Sohn abholen müsse. Das wisse ich! Das brauche man mir nur dreimal zu sagen! Nicht viermal! Dreimal genüge vollauf!!
Leider sagte ich es mit Kopfstimme, woraufhin Germanistenfuzzi äußerst beleidigt den Kopf zurückzog, nachdem er tief aus dem Bauch heraus argumentiert hatte, wenn ich mit der Frau Kollegin vom Sport etwas zu klären hätte, sollte ich das bitteschön zuhause erledigen, und wenn er uns als postillon d’amour nicht gut genug sei, sollten wir ihn da einfach rauslassen, ok?, er werde sich deswegen bestimmt nicht in den Schlaf schluchzen müssen, sich allerdings als Überbringer für die Botschaft peitschen lassen, werde er auch nicht, und es sei dies alles doch wohl kein hinreichender Grund dafür, derart malerisch auszurasten, und betont würdevoll die Tür schloß.
Die biblische Botschaft
Interessanterweise hingen die Kinder jetzt gespannt an meinen Lippen, anscheinend mochten sie es, wenn ein bißchen Leben in der Bude war, und ich beschloß, in dem Rest Zeit, der mir noch blieb, wenigstens die blanke Fabel rüberzubringen, die zwar eigentlich nur Sprungbrett ins Thema der Stunde gewesen sein sollte, aber fort mit Schaden.
Vor mir lag der Apfel. Ich nahm ihn und wog ihn. Er lag gut in der Hand. Wollte sich einer mit mir anlegen, würde ich ihn werfen. Ich würde nicht gezielt nach dem Kopf werfen, aber ich würde auch nicht daneben zielen. Es läge bei Gott.
Also: Esau und Jakob waren Zwillinge, wie Jakob und Anna-Lena, bloß daß Esau rote Haare hatte, und Anna-Lena hat schwarze, und Esau hatte Haare am ganzen Körper, und wenn noch einer von Euch „pieps“ sagen will, oder „mucks“, oder „Igitt, wie eklig“, dann soll er es jetzt sagen, denn danach will ich keinen Ton mehr hören, habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Anna-Lena? Fein. Das gilt auch für dich, Jakob. Nein, Esau ist kein komischer Name, das ist ein ganz normaler Name, es kann schließlich nicht jeder Jakob heißen.
Ich weiß, daß du keine Linsen magst, aber das ist kein Grund, Geräusche zu machen, als wärest du ein Handy mit ganz besonders ekligem Klingelton. Esau mochte Linsen gern, und deswegen hat er Jakob die Linsen abgekauft. Was willst du wissen, Anna-Lena? Seinem Bruder Jakob, ganz richtig. Das ist mir egal, ob du deinem Bruder Spaghetti abkaufen würdest, oder ob du sie ihm einfach wegnehmen würdest, Esau jedenfalls hat die Linsen gekauft, und sein Erstgeburtsrecht dafür gegeben, und Jakob brauchte dann noch den Segen von seinem Papa, was, wie? Ja richtig, der Papa von Jakob und Esau hieß Isaak, Abraham war der Opa. Die Mama hieß Anna-Lena. Nein, Quatsch, die Mama hieß Rebekka. Und bei der Geburt hatte Esau die Ferse von Jakob im Mund, der wollte zuerst raus, und hat gestrampelt, umgekehrt, Jakob die Ferse von Esau, nicht im Mund, in der Hand. Deswegen war Esau der Erstgeborene, und der kriegte den Segen. Das war eben so. Von mir aus hätten auch beide den Segen kriegen können, aber die Geschichte geht eben anders.
Und der Papa konnte nicht mehr gut sehen, der war schon alt, und als Jakob den Segen von seinem Papa holen will, tut er so, als wäre er Esau, indem er sich Pulswärmer und Halskrause aus Bocksfell anzieht, so daß der Papa, wenn er ihn streichelt, glaubt, das sei der haarige Esau. Was willst du, Jakob? Wieder behaupten, daß das eklig sei? Nein, es gab damals noch keine Enthaarungscreme, Anna-Lena. Was ein Segen ist? Weiß du, was ein Pflug ist? Das heißt nicht „Häh?“, Anna-Lena, das heißt „Wie bitte?“ Wie bitte? Ja, natürlich habe ich Fluch gemeint, nicht Pflug. Weißt du, was ein Fluch ist? „Verdammt“ ist kein Fluch. Verdammt ist ein lächerlicher Abklatsch von einem Fluch, allenfalls zu gebrauchen für Leute, die keine Zeit haben, sich einen richtigen Fluch auszudenken, und aber rasch jemanden verfluchen müssen. „Häßlich sollst du sein, häßlich wie die Nacht, von Tag zu Tag sollst du häßlicher werden, so häßlich, daß die Spiegel von den Wänden fallen, aus Angst, du könntest im Vorbeigehen einen Blick in sie werfen, die Haare sollen dir ausgehen bei dem bloßen Gedanken an deine teigige Haut, selbst Schuppen und Mitesser, Flechte und Grind sollen dich fliehen, aus Angst mit dir zusammen gesehen zu werden“, das ist ein Fluch. Hör auf zu weinen, Anna-Lena, du warst nicht gemeint, das war nur ein Beispielfluch.
Der Segen ist das Gegenteil davon. Hausaufgabe: bis zum nächsten Mal denkt sich jeder von euch einen Segen aus: Anna-Lena, du segnest Jakob, Jakob, du segnest Anna-Lena. Doch, du kannst. Gib dir Mühe. Und das gilt für alle: jeder segnet seinen Tischnachbarn. Was? Jeder segnet seine Nachbarin, und jede segnet ihren Nachbarn. Jetzt deutlich genug?
So, nachdem Isaak den Jakob gesegnet hat, schwört Esau, ihm aus Rache den Kopf abzureißen, und Jakob denkt, es ist besser wenn er zuhause auszieht und ins Ausland geht, da kann er Esau aus dem Weg gehen, und da wohnt auch sein Onkel, und seine Mama und sein Papa sagen, daß er seine Cousine heiraten soll, weil seine Mama die Mädchen aus dem Dorf sowieso alle für Schlaääh, sowieso alle nicht ausstehen kann. Da gibt es gar kein „buh“ zu sagen, das war ja nicht euer Dorf, und das ganze ist auch schon ewig her. Doch, man darf seine Cousine heiraten, seine Schwester darf man nicht heiraten. Noch Fragen?
Ach so. Unterwegs wird es Nacht, und Jakob muß unter freiem Himmel übernachten, und er nimmt einen Stein als Kopfkissen und schläft ein und träumt, und im Traum sieht er eine Leiter, die von der Erde bis zum Himmel geht, und an dieser Leiter steigen Gottes Engel auf und ab. Und weil er so beeindruckt ist von seinem Traum, baut Jakob an dieser Stelle einen Tempel und erfindet die Kirchensteuer.
So weit, so gut. In den verbleibenden drei Minuten noch auf den Symbolcharakter von Träumen einzugehen, war wohl nicht klug, ließ ich sie das ganze also wörtlich nehmen. Doch man konnte einen Stein als Kopfkissen nehmen, wenn man in der Wüste unterwegs war, und nichts andres hatte, dann ging das. Nein, ich wußte nicht, wie lange ein Engel von unten nach oben gebraucht hatte, ich wußte wahrhaftig nicht, ob es sich um eine Schiebeleiter oder eine Seilzugleiter gehandelt hatte, ich wußte noch nicht mal, was der Unterschied war, Herr Ortsbrandmeister jr. Ja doch, ich nahm an, daß es sich um eine hölzerne Leiter gehandelt haben werde, ob sie irgendwo angelehnt gewesen war, wußte ich nicht, vielleicht an einer Wolke, vielleicht waren Wolken aber auch zu weich und fluffig, um Leitern dagegenzulehnen, denkbar war auch eine Stehleiter klar, die aber dann unten ziemlich weit auseinandergeklafft haben dürfte, richtig, Anna-Lena, eine Stehleiter würde in der Tat das Problem von Engelgegenverkehr gelöst haben, ja, Pappschilder mit Pfeilen nach oben und nach unten am Fuß der Treppe wären sicher eine gute Idee gewesen, vorausgesetzt, die Engel hätten sich auch daran gehalten, und ebenso richtig, Jakob, dein Einwand, daß eine Stehleiter sehr anfällig für Seitenwind gewesen sein dürfte, denn bei Jakob im Garten war während des Sturms neulich eine Stehleiter umgeflogen, Junge du!
Gong. Der hat das Unterrichtsziel erreicht, der den Gong noch erlebt.
Nein, ich hatte den Schlüssel für den Klassenschrank nicht. Den mußte Jakob noch haben. Wenn Jakob ihn nicht hatte, hatte ihn vielleicht Anna-Lena. Ich verbot mir jede Spekulation darüber, wo sie den Schlüssel hatte, wenn sie ihn hatte.
Nein, ich würde niemanden leibesvisiteren. Sollten sie sehen, wie sie ihre Handys wiederkriegten. Für meinen Geschmack waren die im Wandschrank nicht schlecht aufgehoben. Dann jedenfalls, wenn die Akkus erst leer wären; momentan war da ein rechter Radau.
Ja, mag sein, daß ich mich formaljuristisch gesehen an irgendwas versündigte, wenn ich die Klasse jetzt verließ, aber sollte ich vielleicht warten, bis die Superintendentin hier auflief? Die Bande nach draußen zu treiben überließ ich Germanistenfuzzi, der die Pausenaufsicht hatte.
Das letzte, was ich hörte, war die Ankündigung Jakobs: Na warte, dich werd ich erstmal segnen.