Out Demons Out

Nothing is wasted; no voice is wholly lost.
T. Kupferberg

Er sei neulich, erzählte mein Nachbar, unter Bruch des Völkerrechtes ins Internet eingedrungen, und habe dort im Plattenladen RIAA die Grabbelkisten umgestülpt, ob er nicht die Platte Tenderness Junction von den Fugs fände, von der er seit vielen Jahren der Meinung sei, daß er sie brauche, aber sein begrenztes Budget und andere Prioritäten hätten ihn stets gehindert, sie sich käuflich anzuschaffen. Und nun sei es zu spät, denn es gebe keine Platten mehr.

Dochdoch, sagte ich, es gebe schon noch Platten, ich hätte sogar eine zeitlang zwei Etagen oberhalb eines Technoladens gewohnt, mein lieber Mann! Und ob es noch Platten gebe! Und wie! Und ich wollte noch viel mehr sagen, aber der Nachbar sagte nur, ich solle still sein.

Es sei ihm ja bekannt, daß er sich da unehrlich gemacht habe, aber das habe er früher, als er in der Vorweihnachtszeit Tannenbäume aus ihrem Gehsteiggehege entfernt habe, auch, insofern sei er nicht krimineller geworden, als er vorher schon gewesen sei, und wenn, dann jedenfalls nicht viel.

Er sei auch fündig geworden, erzählte er weiter, wie er eine der Grabbelkisten mit den Anfangsbuchstaben Fu – Gs auf den Kopf gestellt und kräftig geschüttelt habe, sei unten, dem eigentlichen Oben, ein MP3-Archiv herausgepurzelt, an dem Electromagnetic Steamboat und Fugs gestanden habe. Das habe er genommen und – wie früher den Weihnachtsbaum – über den Zaun geworfen, sei selber hinterhergeklettert und auf dieser Seite herabgesprungen. Dann habe er die Beine in die Hand genommen, das MP3-Archiv in die andere, und sei gerannt. Auch das wie früher schon einmal, als er an einem warmen Sommerabend wie diesem hier – er deutete identifizierend mit dem Zigarettenmundstück auf die Platte des Pilgrimhausstammtisches und das dort liegende Bantampäckchen – angelegentlich an einem hitzehalber geöffneten Kneipenküchenfenster vorbeigekommen sei, dort einen Weißkohl habe liegen sehen, spontan den Weißkohl mitgehen geheißen habe, und dann in bester Rugbyspielermanier einen Spurt eingelegt habe, den Weißkohl, der überhaupt nicht gewußt habe, wie ihm geschehen sei, unter dem Arm.

Der späte Abend dann habe ihn und den Weißkohl am Tresen einer für diese Zwecke geöffneten Schenke sitzend und Bier trinkend gesehen, und ihn, den Nachbarn jedenfalls, darüberhinaus auch nicht wissend, was er mit dem Weißkohl anfangen sollte. Da sei es ihm gegangen wie mit vielen seiner Schallplatten – er habe, als Plattenkäufer, eine gute Weile lang mehreren Plattenläden Unterhalt gezahlt, und erst dann damit aufgehört, als die treulosen Gesellen nach und nach mit CDs fremdzugehen begonnen hätten, weswegen seine Sammlung auch immer noch Lücken habe – aber mit vielen Platten sei es ihm nach einmaligem Hören gegangen wie mit dem Weißkohl: er habe mit ihnen nichts anzufangen gewußt. Mißmutig habe er ein ums andere Blatt des Weißkohls abgebrochen und darauf herumgekaut, ohne Geschmack daran zu finden. Ebenso mißmutig habe er von vielen Platten nur das eine oder andere Stück einmal kurz aufgelegt, um auch daran keinen Geschmack zu finden und sie den Rest der Zeit im Regal rumstehen zu lassen.

Ein teures Hobby, zugegeben. Weißkohl klauen sei billiger.

Aber noch viel billiger sei es ja, MP3-Musik im Internet zu klauen. Denn wie es scheine, sei es nicht länger üblich, Singles oder Alben zu klauen, sondern wenn er, der Nachbar, in irgendeiner Weise typisch sei, dann klaue man heute komplette Diskographien.

Der Nachbar drehte sich kopfschüttelnd eine Zigarette. Als wenn man den gesamten Bestand eines Weihnachtsbaumkäfigs über den Zaun schmisse. Solle ihm keiner erzählen, daß der Dieb, der das täte, noch ein persönliches Verhältnis zu einem der Bäume entwickeln könnte, und gleiches Schicksal drohe wohl auch den auf ihren Festplatten ungehört herumnadelnden Terabytes geklauter Musik.

Das Mundstück der Zigaretten des Nachbarn erkennt man daran, daß dort die Tabakskrümel herauskrümeln. Am anderen Ende krümeln sie nicht, denn dort werden sie gerade verbrannt. Sein Tabak mußte schon sehr trocken sein. Ab und zu fiel die gesamte Glut runter.

Besser sei das, teilte ich dem Nachbarn mit, wenn die Musik auf den Festplatten der Diebe Karussel fahre, als auf den Plattentellern von Technoläden. Dort bleibe sie nämlich nicht ungehört.

Ungerührt tupfte der Nachbar die Glut wieder auf, balancierte die Zigarette zum Mund, zog zweimal kurz und heftig, betrachtete die Statik mit kritischem Blick, und sog ein drittesmal. Was ich davon hielte, wollte er wissen, oder gab zumindest vor, es zu wollen, wenn ich meinen Technoladen hernähme und ihn mir in den Anus praktizierte? Womit der Nachbar, grob, wie es manchmal seine Art ist, zu verstehen gab, daß er von dem Technoladen nichts hören wollte.

Das hatte ich damals auch nicht gewollt. Aber ich war nicht gefragt worden.

Das gehe nicht, beschied ich ihn. Den Laden gebe es nicht mehr. Nach ihm sei – getreu dem Motto ‚Selten kommt was Gutes nach‘ – eine Russendisko in das gewerblich vermietete Erdgeschoß eingezogen, und dann sei es erst richtig laut geworden. Und ich wohnte ja auch schon lange nicht mehr zwei Etagen drüber, sondern sei aus- und hierhergezogen und sei sein, des Nachbarn, Nachbar. Er habe mich doch sicher schon einmal über den Zaun gesehen?

Dann solle ich auch, befahl der Nachbar, gutnachbarlich die Klappe halten, wenn er mir etwas zu erzählen habe.

Er habe jedenfalls, fuhr er fort, seinerzeit den geklauten Tannenbaum liebevoll im Flur einer ihm lose assoziierten WG aufgebaut, welcher Flur über quadratischen Grundriss verfügt habe, was unüblich sei, denn für WG-Flure gelte seines Wissens die Vorschrift, daß sie schlauchartig zu sein hätten. Das Weihnachtsfest habe er allerdings in diesem Flur nicht mehr erlebt, da in den diplomatischen Beziehungen zu der maßgeblichen WG-Bewohnerin eine Eiszeit eingetreten sei. Ungeachtet dessen aber stehe jener Baum nach wie vor weihnachtlich geschmückt an seinem Platz, einem quadratischen, sisalbeläuferten Flur in jenem Flügel seines Herzens, der ehemaligen WG-Bewohnerinnen reserviert sei.

In einem anderen Flügel, aber nicht weit davon, der der namenlosen Schönheit gewidmet sei, hätten über Jahre hin die ersten Gitarrentöne einer namenlosen Musik gewohnt, und zwar, seit der Nachbar sie über die Lautsprecher jenes Provinztheaters gehört habe, in dem er als Jüngling dem Ritt über den Bodensee beigewohnt hatte. Später dann habe er Handkes Buch in die Finger bekommen, zu seiner Überraschung darin eine Regieanweisung gefunden, der er Namen und Urheberschaft der Musik entnommen und dann entschieden habe, jetzt habe er aber auch genug von Handke gelesen.

Also habe er das Buch zugeklappt und seiner Besitzerin zurückgegeben. Die Musik aber sei umgezogen, aus dem Flügel für namenlose Schönheit heraus und hinein ins Beschaffungsamt. Dort sei sie in der Priorität mehrfach herauf- und wieder herabgestuft worden und endlich, nachdem die Plattenindustrie dem Nachbarn den Krieg erklärt und ihn vermittels einer Seeblockade vom Vinylnachschub abgeschnitten hatte, um ihn gegen seinen erklärten Willen zur Abnahme von CDs zu zwingen, da sei sie ein vorletztes Mal umgezogen, vom Amt für Beschaffung ins Amt für Beschaffungskriminalität.

Der Nachbar krümelte nunmehr die allerletzten Brösel aus seinem Tabakspäckchen ins Papier, und antwortete auf meine Frage, ob er keinen frischen Tabak mehr habe, das sei ja nicht zum Ansehen, es spreche überhaupt nichts dagegen, daß ich zur Tankstelle liefe und ihm zwei Päckchen holte; die Zeiten, da man bei Louis Tabak habe kriegen können, seien ebenso vorbei wie die Ära der Schallplatte. Als ich eben aufstehen wollte, um mich auf den Weg zur Tankstelle zu machen, sagte er, ich solle mich gefälligst wieder hinsetzen, er sei noch nicht fertig.

Dort sei sie geblieben bis neulich, als er sich, wie gesagt, Electromagnetic Steamboat aus dem Internet geholt habe.

Das er eigentlich gar nicht habe haben wollen, Tenderness Junction würde ihm vollauf genügt haben, sei aber gerade aus gewesen. Bzw. sei Bestandteil des Gesamtpaketes, und er habe denn auch, als braver Staatsbürger, die Teile des Archivs, die er nicht brauchte, sofort weggeworfen, denn er wolle die RIAA ja nicht mehr schädigen, als unumgänglich.

Das sei jetzt aber der vorerst letzte Umzug der Musik, nun wohne The Garden is Open dort, wo es hingehöre, im Herzen des Nachbarn, im Musikzimmer, und dort auf dem Regal ‚Wackerer Krach‘. Und eigentlich könnte hier die Erzählung zuende sein und ich wäre entlassen, um ihm zwei Päckchen Tabak von der Tankstelle zu holen, wäre auf der Platte nicht ein lustiges Stückchen gewesen, daß er zuvor nicht gekannt habe. Und zwar heiße das Exorcising the Evil Spirits from the Pentagon Oct. 21, 1967 und sei der dokumentierte Versuch, die Üblen Geister aus dem Pentagon zu vertreiben, welchen die Fugs am 21. Oktober 1967 veranstaltet hätten.

Das habe damals wohl nicht funktioniert, auch nach der Band eigener Einschätzung nicht. Aber das heiße ja nicht, daß es ein untauglicher Versuch gewesen sei, vielleicht seien die Üblen Geister im Pentagon zu zahlreich gewesen, oder zu mächtig, und ein minderer Geist wie Dirk Niebel ließe sich vielleicht ohne weiteres mit dem Kantus vertreiben.

Er habe vor, an einem der kommenden 21. Oktober den Versuch zu machen, die RIAA aus dem Internet zu vertreiben, und so den Krieg der Musikindustrie gegen die Musikliebhaber zu stoppen. Was er dazu brauche, seien textsichere Mitstreiter, die in der Lage seien „Raus, Dämon, raus!“ zu skandieren und dabei rund ums Internet zu marschieren. Er rechne auf mich.

Eben war das nahezu leere Papierröllchen mit wenigen Tabakskrümeln darin mit heller Flamme aufgebrannt, und der Nachbar hatte nun definitiv nichts mehr zu rauchen. Das konnte nicht lange gutgehen, und irgendwas würde dann geschehen. Vorerst aber kam Louis, der Wirt, angelockt durch das „Raus, Dämon, raus!“, setzte sich zu uns, sah kopfschüttelnd das verbrannte Papier und meinte „Jungejungejunge“. Er hielt dem Nachbarn sein Päckchen Marlboro-Zigaretten hin, der Nachbar zog eine aus der Schachtel, brach ihr das Genick, warf den Filter in den Ascher, drehte sie um, zündete sie an, sog und verzog angewidert das Gesicht.

Jetzt aber sei es Zeit für eine Generalprobe. Louis solle mitkommen, ich solle mitkommen, Andi der Koch solle nicht mitkommen, denn wir würden nunmehr probieren, die Üblen Gerüche aus Andis Kochzone zu vertreiben, und er solle drinbleiben und uns berichten.

Ohne groß darauf zu achten, was wir taten und ob wir mitkamen, baute sich der Nachbar im schlauchengen Flur des Pilgrimhauses auf, fixierte die Küchentür und legte los:

Wir rufen an die Mächte des Kosmos unsere Zeremonie zu schützen
Im Namen des Zeus,
Im Namen des Anubis, des Gottes der Toten,
Im Namen aller die dahingegangen sind ohne zu verstehen warum,
Im Namen aller Hungrigen, deren böses Karma sie Andis Kohlsuppe hat essen machen,
Im Namen der schaumgeborenen Aphrodite,
Im Namen der Großen Mutter,
Im Namen des Dionysos, Zagreus, Jesus, Jahwe, des Unnennbaren, der vollkommenen Letztgültigkeit zoroastrischen Feuers, im Namen des Hermes, …

Beim zoroastrischen Feuer war Andi aus der Küche gekommen, hatte von einem Gesicht ins andere geblickt, zu der Frage „Piept es bei euch?“ angesetzt und sie als überflüssig verworfen. Dann hatte er sich an die Zarge gelehnt, eine Schachtel Zigaretten aus der Schürze gezogen, sich eine angezündet, und sah nun dem Nachbarn interessiert zu, der seinen Singsang fortsetzte und noch ein paar Gottheiten und Entitäten anrief, in deren aller Namen er den Dämon des üblen Geruches beschwor, die Küche des Pilgrimhauses zu verlassen

Schließlich verfiel er in das rhythmische „Raus, Dämon, raus!“, das er mir bereits am Tisch demonstriert hatte. Das klang ein bißchen dünn, obwohl des Nachbarn Brustkorb als Resonanzboden kein Leichtgewicht ist, und weil Louis um diese Tageszeit allzuweit jenseits von Gut und Böse ist, um als Sangeskraft infrage zu kommen, wollte ich schon zu seiner Unterstützung mit einfallen, obwohl es mir auch lieber ist, mich in der hinteren Reihe eines Chores zu verstecken, anstatt den zweiten Solisten zu geben.

Aber es kam anders. Plötzlich war es still, der Nachbar nicht mehr da und hinter dem rauchenden Andi war das leise Brodeln seiner Kohlsuppe wahrzunehmen. Ein Weißkohlkopf, der eben noch auf dem Schneidbrett gelegen hatte, war fort, und die offene Tür zum Garten war noch ein bißchen offener. „Ganz schön schnell,“ sagte Andi anerkennend, und zog an seiner Zigarette. „Was ist denn heute los mit dem? Unterzuckert?“

„Nikotinmangel,“ vermutete ich, „er hat seit 10 Minuten keinen Tabak mehr.“

Fürsorglich brachte ich Louis, der noch genug Zigaretten hatte, wie man daran sah, daß er beim Versuch, eine aus der Schachtel zu nehmen, alle anderen auf den Boden warf, zurück zum Tresen. Und siehe, am Stammtisch, saß der Nachbar, knabberte am Kohl und sah uns wohlwollend entgegen.

Was er sich, wollte er, als ich mich zu ihm setzte, von mir wissen, unter einem ‚Technoladen‘ vorzustellen hätte? Was es denn, außer Krach, dort gegeben hätte?

Ich wußte ich es nicht mehr. Die Details der Jahre in der zweiten Etage hatten mich erfolgreich aus meiner Erinnerung vergrault. Irgendwelche Anziehsachen, vermutete ich, und möglicherweise auch Accessories oder Accessoires, deren die Technokundschaft zwar bedurfte, deren Natur, Funktion und Zweck mir nicht Initiiertem aber verborgen bleiben mußten.

*            *            *

Als ich auf dem Nachhauseweg am Internet vorbeikam und eine Weile durch den Zaun spähte, las ich, daß Tuli Kupferberg am Montag gestorben war.

Ein Kommentar zu “Out Demons Out

  1. Wahnsinn – einfach nur super guter Wahnsinn!!!!!!!;-)!!!!!!!


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