Das Fest des Onkel Mischuk

Er habe, erzählte mein Nachbar, um seinen Widerwillen gegen die italienische Küche zu festigen, und ihn um die Abneigung gegen die italische und die etruskische Küche zu erweitern, mit seiner Familie zwei Wochen im Etruskischen Urlaub gemacht. Was ihn angehe in der leisen, aber wohl müßigen, Hoffnung, es möge seiner Familie und insbesondere seiner Frau des italienischen Krempels eines Tages zu viel werden, und was seine Familie angehe, in der unverhohlenen Absicht, mit ungereffter Leinwand in die Tortini di carciofi alla fiorentina zu segeln, am Ragù di funghi e carne zu ankern und des Morgens noch vor dem Zähneputzen von Deck in die Cacciucco alla viareggina zu springen.

Zwar seien die heutigen Etrusker streng genommen keine reinen Etrusker mehr, sondern durch Römer und Langobarden und heutzutage auch durch Italiener stark verwässerte Etrusker, doch finde man in der Etruskei noch allenthalben Spuren des etruskischen Totenkultes, dessen Gegenstand jedoch nicht mehr der tote vorgeschichtliche Etrusker sei, sondern das zeitgenössische tote etruskische Wildschwein.

So seien der Nachbar - und dessen Familie, sofern diese zwischen dem Essen Zeit dazu gefunden habe - Zeugen des alljährlich um diese Zeit stattfindenden Festes des Onkel Mischuk geworden.

Der Onkel Mischuk, das sei die überlebensgroße Figur eines sitzenden Keilers, der aus Stroh gefertigt sei, mit Hauern aus Alabaster, mit Kastanienketten geschmückt, die Klauen mit Olio novo poliert. Der werde am letzten Samstag vor Allerheiligen von einem Fünfzehnjährigen, der zuvor im kämpferischen Spiel habe nachweisen müssen, der Ehre würdig zu sein, begleitet von einer gleichaltrigen Jungfrau, in die Wälder der Maremma gebracht und auf der Spitze des Monte Cinghiale auf einen aus dem Fels gehauenen Tron gesetzt. Dort erfülle er zwei Funktionen: zum einen könnten die Schweine an der Ausrichtung des Onkel Mischuk erkennen, von wo sie die etruskischen Jäger zu gewärtigen hätten, denn Onkel Mischuks nie ermüdende Augen aus glänzendem Schiefer blickten wachsam in diese Richtung, und zum anderen sei der Onkel Mischuk das sichtbare Symbol eines mit den Wildschweinen geschlossenen unsichtbaren Paktes: Geste der Dankbarkeit gegenüber den Schweinen, für deren Bereitschaft, die Jäger mit Fleisch zu versorgen, und Versicherung des Willens der Jäger, ihren Teil des Paktes einzuhalten, denn nur solange Onkel Mischuk dort saß, mußten die Schweine mit Nachstellung rechnen. Für den Rest des Jahres würde kein Jäger die Hand gegen sie erheben.

Mir kam das, was der Nachbar da erzählte, ausgesprochen spanisch vor, um nicht zu sagen französisch, oder besser jakutisch, und ich gab meinem Mißtrauen verbalen Ausdruck, was den Nachbarn aber nur veranlaßte zu sagen, ich solle still sein, wenn er redete, schließlich sei ich es, der davon profitiere, wenn der Nachbar seine Urlaubsberichterstattung farbig ausgestalte, auch wenn die Farbe, was er mir ja zugebe, einem anderen Kulturkreis entstamme als dem etruskischen. Für den, das wisse ich ja wohl noch aus der Kindermalstunde, sei die Wasserfarbenkastenfarbe Gebr. Siena zuständig, die kein Kind möge und die in den Malkästen immer übrig bleibe, nicht aber der Onkel Mischuk.

Sobald der aber dort oben hocke, rotteten sich die Etrusker zusammen, in Hunderten und Aberhunderten von Autos, in denen je ein Etrusker sitze, niemals zwei oder gar mehr, eine Warnweste auf dem Wanst, einen Schießprügel auf dem Rücksitz, oder sonst einen Stock, mit dem man das Wild bange machen könne, und dann gehe es mit 70mm-Schrot über die Schweine her. Um sich ein Bild von dem zu machen, was die etruskischen Wälder an einem solchen Wochenende auszustehen hätten, lese man am besten den Reiseführereintrag zu der etruskischen Stadt San Gimignano, in dem es heiße, jeder, der sich einen Rest von Selbstachtung bewahrt habe, werde ein solches Touristenkaff weiträumig umfahren, so wie er Italien selbst weiträumig umfahre, und überhaupt lieber gleich in Käsdorf bleibe. Das heiße, so stehe das da nicht, noch nicht, so stehe es erst im Entwurf, und er wegen des Entwurfes in Kontakt mit der Redaktion, die sich aber spröde gebe. Zur Zeit stehe im Reiseführer, die Stadt müsse man gesehen haben, auch wenn diese fast am Tourismus ersticke, weil knapp 10 000 Eingeborenen 8 Mio. Besucher im Jahr gegenüber stünden, denn auf zwei oder drei Touristen mehr oder weniger komme es bei solcher Lage der Dinge auch nicht mehr an. ‚8 Mio. Besucher im Jahr‘ stehe dort, aber das sei ein sachlicher Fehler, richtig heißen müsse es: ‚8 Mio. Besucher an einem weniger lebhaften Wochenende‘. Auch diesbezüglich stehe er mit der Redaktion in Kontakt, die sich aber störrisch und uneinsichtig zeige.

Vergleichbar gehe es im etruskischen Wald am Fest des Onkel Mischuk zu: ca. 10 000 etruskischen Wildschweinen stünden etwa 8 Mio. etruskische Autos gegenüber, bzw. etruskische Jäger und Treiber, aber da man pro Jäger ein Auto rechne, und pro Treiber ebenfalls ein Auto, laufe es am Ende auf das Gleiche hinaus, nämlich den Tod der Wildschweine, die, wenn nicht an Streß verendet oder zu Tode getrampelt oder unter Treibern erstickt, zumindest überfahren würden. Hin und wieder werde auch eines erschossen.

Aber welcher Tod die Schweine auch ereile, der Etrusker der Neuzeit baue ihnen keine Nekropolen, sondern verarbeite sie zu Cinghiale alla cacciatora, welchselbes er langobardischen Touristinnen andiene, die es auch bereitwilligst abnähmen und unter Aah!s und Ooh!s und Mmh!s und mit viel Chianti porchetto riserva verzehrten. Er, als deren Opfer, habe nolens volens mittun müssen, bei Strafe des Kohldampf Schiebens, denn Bratkartoffeln und Bier seien nicht zu haben gewesen.

Ein winziges Zucken spielte um die Lippen des Nachbarn, wie bei einer nicht unangenehmen Erinnerung. Ich überlegte, ob ich ihn schon einmal hatte lachen sehen. Ich glaube es nicht. Darin ist er Buster Keaton ähnlich, dem er ansonsten natürlich nicht gleicht, schon, weil man aus dem Nachbarn 4 Buster Keatons machen könnte, ohne daß deren einer untergewichtig bleiben müßte.

Er kramte in seinem Tabaksbeutel und produzierte kurz darauf mächtigen Rauch, in dessen Beize jedes Zwinkern gerechtfertigt war und nicht gegen ihn verwandt werden konnte. Wie es denn in Etrurien mit dem Tabakrauchen bestellt sei, wollte ich wissen, zumal in Osterien und Trattorien und Rosticcerien und Pizzerien und Pasticcerien und Bars und Restaurants und Gelaterien und …

Die nunmehr bezigarettete Hand des Nachbarn schnitt mir die Rede ab. Woher er das wissen solle? Man habe am Fest des Onkel Mischuk draußen sitzen können, und gesessen, wo man soviel habe rauchen können, wie man wollte, hätte er da zum Tresen gehen sollen und fragen, wie es drinnen aussehe?

Schon diese Tatsache, fuhr der Nachbar fort und sog heftig, daß man habe draußen sitzen können, nehme ihn gegen Italien ein. Er sei - hier pustete er den Rauch wieder aus - ein großer Fan der Natürlichen Ordnung der Dinge, und zur Natürlichen Ordnung der Dinge gehöre, daß am Allerseelentag ein rechtes protestantisches norddeutsches Scheißwetter sei. Andererseits komme dem Raucher - und der Raucherin - je konsequenter er - oder sie - aus dem Öffentlichen Raum verbannt werde, sofern der Raum ein geschlossener sei, das etruskische Klima entgegen, wolle man sich nicht zum Rauchen in die Privatheit der vier Wände zurückziehen müssen, und seien es die vier Wände des Automobils, eines Gegenstandes, der im Leben der Etruskerin anscheinend eine ähnlich große Rolle spiele wie im Leben des Etruskers. Zwar komme die Etruskerin hin und wieder kurzfristig aus dem Auto heraus, wenn es etwa gelte, sich frisieren zu lassen, steige aber sofort wieder ein, wenn sie damit fertig sei, in der einen Hand die Zigarette, in der anderen Hand das glühende Handy.

Der Nachbar warf den noch glühenden Zigarettenstummel in den öffentlichen Raum und teilte mir mit, daß er der Etruskerin die Zigarette natürlich nicht mißgönne, woher denn auch, das Handy aber wohl. Denn werde auf der Welt nicht ohnehin genug telefoniert? Selbst wenn man berücksichtige, selbst wenn man in Rechnung stelle, daß gefühlte 80 Prozent des Telefonieaufkommens der Welt auf das Konto der Etruskerin gehe, und weitere geschätzte 79,83 Prozent auf das Konto des Etruskers, selbst wenn man diese aus den Fingern gesogenen 95,97 Prozent von der Welttelefonie abziehe, dann werde immer noch genug telefoniert auf der Welt.

So daß es die Telefoniererei durch die Etruskerin eigentlich nicht brauche.

Was aber die Vielzahl der Automobile angehe - auch an einem Tag, an dem von den 3,6 Millionen in Etruskien registrierten Autos gelogene 8 Millionen im Wald unterwegs seien, bevölkere in etwa dieselbe Menge nach wie vor die Straßen, und parke insbesondere vor den Friseurläden -, so begünstige die Geographie des Etruskerlandes das unsinnige Herumfahren objektiv, indem nämlich die Städte und Dörfer alle oben auf den Bergen lägen. Damit aber werde das Prinzip der Kosmischen Faulheit, ein Prinzip, das dem Nachbarn mindestens ebenso teuer sei wie die Natürliche Ordnung der Dinge - zu der es, nebenbei bemerkt, gehöre - und das besage, daß ein sich selbst überlassener Gegenstand seinen Weg von hier nach da stets so wähle, daß zu seiner Bewältigung möglichst wenig Arbeit anfalle, dieses Prinzip werde von der Infrastruktur des Etrurats mit Füßen getreten. ‚Von hier nach da‘ heiße dort ‚über die Berge‘, und zwar über alle Berge, wodurch die Charakterisierung San Gimignanos als ‚einer Stadt, die man gesehen haben müsse‘, eine Bedeutungsverschiebung erfahre, hin zu ‚einer Stadt, an der man nicht vorbeikomme‘.

Was auch stimme. Und wenn es nicht San Gimignano sei, dann sei es halt irgendein anderes Bergdorf, durch das man müsse, wenn man von A nach B wolle. Dabei falle naturgemäß jede Menge Arbeit an, die zu bewältigen der sich selbst überlassene Etrusker und die sich selbst überlassene Etruskerin, die dem Gesetz der Kosmischen Faulheit ja schließlich auch unterworfen seien, verständlicherweise aufs Auto zurückgriffen.

Nur daß die ganze schöne Arbeit letztlich für die Katz sei. Denn in B angelangt, stelle man enttäuscht fest, daß es dort doch nur wieder auf etruskische Gastronomie hinauslaufe, und man, was das angehe, auch in A hätte bleiben können.

Wie auch das Fest des Onkel Mischuk und der ganze mörderische Aufwand der Wildschweinhatz letztlich umsonst seien und zu nichts Gescheitem führten.

Denn beides ende am Ende doch nur wieder in der italienischen Küche.

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