Antje Vollmer, die Moderatorin des Runden Tisches zur Heimerziehung, hat in einer Stellungnahme zum Eklat am Donnerstag die Heimerziehung der 50er, 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als „gescheitert“ bezeichnet. „Unabhängig von der Trägerschaft der konkreten Einrichtung – Bund, Länder, Kirchen – müssen wir feststellen: die Performance der Heime war nicht das, was man sich versprochen hatte. Sie war auch nicht das, was notwendig gewesen wäre, um das Erziehungsziel zu erreichen: ehrliche, bescheidene, reinliche, ordnungsliebende, gesetzestreue, obrigkeitshörige und gottesfürchtige Subjekte, die ihren Platz kennen, nicht aufmucken, reden, wenn sie gefragt werden, auf der rechten Straßenseite gehen, ein sauberes Taschentuch dabeihaben und die gewaschenen Hände mit den kurzgeschnittenen Nägeln auf der Bettdecke lassen.“
Wäre das Ziel erreicht worden, säße man heute nicht um diesen runden Tisch herum. Man sitze aber um diesen runden Tisch herum, und müsse sich gefallen lassen, daß die Vertreter der Heimkinder aufbegehrten, was ihnen nicht zukomme, von sich aus an die Presse heranträten, was ihnen auch nicht zukomme, und die ErzieherInnen – Pardon, nicht die ErzieherInnen, sondern die VertreterInnen von Bund, Ländern und Heimträgern – zu Drohungen mit Puddingentzug und Stockschlägen, mindestens aber mit Platzenlassen der Gespräche zu greifen, um die Disziplin wiederherzustellen. Das zeuge von Hochmut und Hoffahrt der Zöglinge, die man nicht gewollt und für die man – ganz platt gesagt – das viele Geld (immerhin D-Mark!) für die Heimerziehung nicht aus dem Fenster geworfen habe. Das hätte man auch billiger haben können.
Summa summarum heiße das, die Kritik an der Heimerziehung sei völlig berechtigt. „Wenn man sich ansieht, wieviele der ehemaligen Zöglinge heute noch Bettnässer sind,“ sagt ein Runder-Tisch-Genosse, der nicht genannt sein möchte, weil er „nicht will, daß diese Leute – da sind ja üble Gesellen darunter, Mopeddiebe und was nicht alles“ seinen Namen erfahren, und der am runden Tisch die Interessen der Länder vertritt, die erst mal sehen wollen, wie billig sie davon kommen können, bevor sie sich zu irgendwas verpflichten, „dann muß man sagen: die Erziehung ist gescheitert. Diese Erziehung war ein Schlag ins Wasser.“
„Das ist doch das erste, was ich lerne, wenn ich in ein Heim komme: das ich meine Notdurft nicht im Bett verrichte. Das ist doch das allerkleinste Bißchen Anstand überhaupt. Und wenn das nicht auf Anhieb klappt – das verlangt ja niemand, denn diese … diese Leute kommen ja teilweise aus schwierigen Verhältnissen, wo das einfach nicht gelernt worden ist – wenn das nicht auf Anhieb klappt, ja dann wird das eben geübt! Dann steht man eben mal eine Nacht lang barfuß im Käfig auf dem Hof! Im Januar. Dann fällt die Entscheidung dafür, nicht in die Laken zu machen doch gleich viel leichter.“
„Und das zweite, was ich im Heim lerne – pardon, hätte lernen müssen, wenn die damaligen Erzieher ihre Pflicht getan hätten, was sie ganz offensichtlich nicht haben, denn: – das zweite, was ich dort lerne ist Ehrlichkeit. Sich selbst im Spiegel zu sehen und zu sagen: du bist ein Schwein. Du bist ein bettnässerisches Schwein! Du hättest es verdient, einen Vormittag auf dem Hof zu stehen, das vollgepißte Laken über dem Kopf. – Das wäre Ehrlichkeit, und das wäre das zweite, was ich im Heim gelernt haben würde, nur war ich ja nicht im Heim, weil ich ja ein anständiger Junge aus – ich will nicht sagen: ‚anständigem Haus‘ war, denn auf seine Herkunft hat man ja keinen unmittelbaren Einfluß, es ist ja auch Glück dabei, und Gnade – aber da ich ein Junge aus anständigen Verhältnissen war, war ich schon von Hause aus kein Bettnässer.“
„Und von daher gab es für mich auch nicht die Notwendigkeit zur Ehrlichkeit. Ich mache den … diesen Leuten ja auch keinen Vorwurf, der Vorwurf trifft die damaligen Erzieher, deren Aufgabe wäre es gewesen, das Konzept ‚Ehrlichkeit‘ überhaupt erst mal in den Köpfen zu verankern. Denn woher soll es bei dene … diesen Leuten denn kommen? Aber wenn man dann hört und liest, daß sie heute, nach all den Jahren, immer noch nicht gelernt haben, die Schuld bei sich zu suchen, sondern den bequemen Weg des geringsten Widerstandes gehen, und sich von willigen Gutachtern und Psychologen, deren Geschäftsmodell das schließlich ist, einreden lassen, daß es die Traumata der Jahre im Heim gewesen sind, die sie zu Bettnässern und Versagern gemacht und zur Lebensuntüchtigkeit verdammt haben – ja da kann ich doch nur sagen: Sorry! aber ihr scheint es ja mit der Ehrlichkeit immer noch nicht so genau zu nehmen. Und wenn da wo ein Moped an der Ecke steht, und einer von euch kommt vorbei, dann möchte ich dieses Moped nicht sein!“
Ganz falsch wäre es daher, findet Antje Vollmer, dem seinerzeit aus dem Fenster geworfenen (schlechten) Geld jetzt noch einmal gutes Geld hinterher zu werfen, etwa in Form von Entschädigungen. „Das wäre unrealistisch und unbezahlbar.“ Allerdings sei richtig, daß die Zöglinge ein Recht auf Entschädigung hätten, denn das, was man ihnen damals zugesichert habe und wofür sie zum Teil hart und ohne Bezahlung und ohne Rentenansprüche zu erwerben hätten schuften müssen, nämlich sie zu anständigen Menschen zu erziehen, das sei ihnen – so müsse man das sehen – schlicht vorenthalten worden.
Ein Dilemma, findet Vollmer, und nicht nur sie. Wie aber damit umgehen?
„Ich bin schon ein bißchen angefressen. Sicher, es war eine andere Zeit, damals, und vieles hat man nicht so gesehen, wie wir heute es sehen. Aber einige dieser Erzieher, da bin ich sicher, hatten, auch nach damaligen Standards, in solch einer verantwortungsvollen Position nichts verloren.“
„Ein paar Jahre früher wäre sowas ins Heim gekommen.“