Die Einführung neuer Technologien geht regelmäßig mit Klagen über deren schädliche Wirkung auf traditionelle Sitten und Werte einher. Kein Wunder also, daß auch das Handy täglich schätzungsweise 491 Lamentis von schätzungsweise ebensovielen selbsternannten Kulturpessimisten hervortüdelütet, die ihr Handwerk nicht richtig verstehen und vor allen Dingen keine Ahnung haben.
Denn, und das sagen wir, die wir wissen, wovon wir reden, das Handy ist wirklich ein großer Fortschritt für die Menschheit, wie auch die Tastatur, wie jeder weiß, der sich schon einmal in einer alten Remington die Finger geklemmt hat, das Farbband hat wechseln müssen, oder zwei Tasten gleichzeitig getroffen und den Schaden rückgängig zu machen versucht hat, ohne sich die Finger schwarz zu machen, bzw. mit den bereits schwarzen Fingern auf das Dokument zu packen, es nicht zu merken, es einzutüten und wegzuschicken.
Aber davon ein andermal mehr. Zurück zum Handy. Das beste ist,
- man kann es vergessen.
Wie wir heute morgen. Wir haben gleich, als wir im Büro waren, angerufen und uns an der Vorstellung erfreut, daß es nun zuhause klingelt und keinen stört. Wunderbar!
Aber vielleicht klingelt es auch gar nicht, sondern, das ist das zweitbeste,
- der Akku ist leer.
Hah! Mitten im Gespräch. Noch bevor man hat mitteilen können, in welcher S-Bahn man gerade sitzt, oder um welche Ecke man gerade biegt, und der Gesprächspartner kann sich mal ein paar Gedanken machen, ob es denn wirklich so wichtig war, was er von einem gewollt hat, und ob es überhaupt gerechtfertigt ist, wildfremde Menschen remote zu terrorisieren, möge ihm sein Handy auf den Zeh fallen und die Lötbahnen auf der Platine feine Haarrisse bekommen, was zu merkwürdigem, spontanem, unerklärlichem Abfall der Verbindungsqualität führt, und er sich zunächst ständig in Funklöchern wähnt, irgendwann aber ahnt, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, insbesondere da er selbst noch anrufen kann, aber niemand mehr bei ihm anzurufen scheint, was zwar nicht stimmt, aber ihn glauben macht, er werde nicht mehr geliebt. Hähähähähä.
Aber zurück zum Handy. Was noch gut ist:
- Es läßt sich abstellen.
Haben Sie das mal mit einem alten, lachsfarbenen Tipptastentelefon mit sechs Meter Schnur für 1 Mark 50 mtl. Miete (für die Schnur) von der Telekom, damals noch Post und, weil es sie noch nicht gab, auch nicht in Spitzelaffären verwickelt: – das ging gar nicht. Wer damals eine Nacht lang Ruhe haben wollte, legte den Hörer daneben, was einem on dit nach sogar verboten war, aber was wollte man denn machen? Das Handy schalten Sie einfach aus, oder legen es bei Bedarf in den Nachttopf, in den es, im Gegensatz zum lachsfarbenen Modell ganz gut hineinpaßt, denn, und das ist der Hauptvorteil dieses menschenfreundlichen gadgets:
- Man kann es wegschmeißen.
Das ging mit dem alten Festnetztelefon auch nicht, das gehörte nämlich der Post. Wegwerfen war Hochverrat. Außerdem paßte es nicht nur in keinen Nachtopf, es paßte praktisch nirgendwo rein, jedenfalls nicht in den Schacht eines Dauerbrandofens; wir haben das ausprobiert, weil uns das Klingeln Nervenentzündungen und Hirnstammaffektionen verursachte.
Ja, Sie lachen. Aber so war das damals.
Das ist heute alles sehr viel besser.
Was aber allen Anlaß zu Kulturpessimismus gibt, das ist Spiegel Online.
Dort hockt und lauert der Untergang des Abendlandes in jedem Artikel, macht aus jedem Handy in Kinderhand eine Schuldenfalle, multipliziert jugendgefährdende Inhalte durch Berichte über jugendgefährdende Inhalte auf Handys und geriert sich als das sprachverhunzende Bildungshemmnis, als das ihn wahrer Kulturpessimismus schon immer wahrnahm.
So weit, so gut. Was aber nicht angeht, ist, daß man sich nunmehr anmaßt, auf unserm Lokus Wasser trinken zu kommen, und selbst entscheiden zu wollen, wovon das Abendland untergeht. So geschehen am 29.5.08 (heute), mit der Kolportage vom Handy, dem bösen, das Filmplots und Konzerte ruiniert.
Das entscheiden nämlich wir. Und wir entscheiden: das Handy macht die Plots von Filmen nicht kaputt, kein Stück. Wie denn?
Innen, nacht.
Zerwuscheltes Bettzeug (lachsfarben).
Wuschelkopf unter zerwuscheltem Laken.
Kamera schwenkt auf lachsfarbenen Nachttisch. Lachsfarbenes Handy, mit kleinen Diamanten besetzt.
Suspense-Musike (lachsfarben). Ist dann aber gar keine Musik, sondern der Klingelton des Handys.
Hand wuschelt unter Laken hervor, greift Handy, fummelt unter Bett, zieht Nachttopf (lachsfarben) ein Stück nach vorn, läßt Handy hineinplumpsen. Klingelton gedämpfter, dann verstummend.
Hand und Wuschelkopf wuscheln sich unter das Laken zurück. Ein Seufzer aus Urtiefen des Menschseins steigt zu den Göttern. Händels Wassermusik setzt ein.
Na, ist das ein Plot? Eben. Und was Konzerte angeht:
T-Bone Burnett auf Bühne. Publikum im Saal telefoniert. Burnett „A kiss on the hand may be quite continental
But cell phones are a girl’s best friend“Publikum im Saal hört nicht zu. Burnett „A kiss may be grand but it won’t pay the rental
On your humble flat, or your cell phone bill
Men grow cold as girls grow old
And we all lose our charms in the end“Burnetts Handy klingelt. Burnett „But square cut or pear shaped“ Publikum kriegt nichts mit. Burnett (zum Telephon) Hold the line a second. Publikum kriegt immer noch nichts mit. Burnett „These bricks don’t lose their shape
Cell phones are a girl’s best friend“Band spielt weiter. Burnett (zum Telephon) To whom do I have the pleasure of speaking? Der Drummer telephoniert mit dem Bassisten, ob sie weiter spielen sollen oder was jetzt hier eigentlich abgeht. Das Publikum kriegt nichts mit. Telephon (zu Burnett) This is Thor Christensen from the Dallas Morning News. Our readers would like to learn your views on how cell phones are ruining the concert experience. Burnetts Akku ist leer. Thor Christensens Handy fällt ihm aus der Hand, wobei die Lötbahnen auf der Platine unsichtbare Haarrisse bekommen. Das Publikum kriegt nichts mit. Burnett (zur Band) All these new toys, people have to play with them for a while, but ultimately, they’ll figure out how dehumanizing they are. Das Publikum kriegt nichts mit.
Na also. Alles halb so wild.