Advent, Advent, 1 Funzel brennt
Nacht ist es in dem kleinen Städtchen. Stundenlang schon ist Flocke um Flocke vom tiefhängenden Himmel gefallen, hat die Häuser und Dächer mit Filz überzogen, den Straßenlaternen lustige Mützen aufgesetzt und auf den Straßen weiße Teppiche ausgerollt. Mühevoll stapft der Nachtwächter durch die alten Gassen und Mauern, bleibt hin und wieder stehen, um sich den Schnee vom Pelzkragen zu klopfen, und wünscht sich zurück ins Warme, wo ein Kaminfeuer und sein treuer Punsch auf ihn warten.
Die Bürger sind längst zu Bett gegangen, die Straßenleuchten erloschen, die Stadt schläft. Nur ein Erkerzimmerchen am Rande der Stadt ist noch matt erleuchtet; dort wohnt der Dichter Remoldus Fleischhauer, der in allem nur das Schlechte sieht und darum Polemiken schreibt. Er sitzt in seinem ungeheizten Kämmerlein, friert, was das Zeug hält, und feilt beim Licht einer öden Tranfunzel an seiner jüngsten Taschenpolemik.
Eben summt er ein paar Takte eines Adventsliedchens: Nun will der Lenz uns grüßen, von Mittag weht es lau, preßt Daumen und Zeigefinger auf die Brauen, schließt die Lider und stellt sich mit Wohlgefallen vor, wie diese eitle Geste wohl im Spiegel wirken würde, dann tut er so, als hätte die Muse ihn geküßt, taucht den Kiel ins Faß und streicht alles wieder durch, was er bis dahin geschrieben hat.
Es will und will heute nicht gelingen.
Der Dichter Fleischhauer hatte seinerzeit, als Gott das Geisteslicht verteilte, nicht warten mögen, bis er an der Reihe war, sondern hatte seinen Teller weiter in die Mitte geschoben und die seiner Kollegen ein wenig zum Rand hin, so daß, wenn St. Nikolaus die Gaben durch den Schornstein werfen würde, sein Teller nicht zu knapp davon kommen sollte.
Aber St. Nikolaus ist ein weiser Mann und läßt sich nicht nötigen, und als der Dichter am Morgen nachsah, lag auf seinem Teller nur eine mickrige Funzel, während es auf den Tellern der Kollegen hoch her ging: Nüsse, Äpfel, Mandelkern, Star-Wars-Sammelbildchen, Playmo-Piraten, spitze Griffel, blaue, schwarze, rote und grüne Tinte, frische Federkiele, Druckerpatronen, eine App fürs iPhone, iMuse geheißen, und jede Menge LED-Geistesblitze.
Schnell hatte Fleischhauer versucht, seinen Teller gegen den von Broder zu tauschen, aber das hatte schon am frühen Morgen eine Maulschelle gesetzt, und so war es dabei geblieben, daß Fleischhauer sich mühen und plagen, schreiben und streichen, Federkiele nachschneiden und Tinte nachfüllen, klecksen und Stifte kauen mußte, wo andere mit genialem Strich und mühelos mit wenigen Sätzen die ganze Stadt zu beleidigen wußten.
Verzagt hatte er indes bis heute nicht.
Es schwebt ihm vor, so ist ihm vage, eine Polemik wider Guttenberg zu schreiben, einen stadtbekannten Exhibitionisten, dem die alte Tante ZEIT in der letzten Woche ihre Dossier-Schenkel weit geöffnet hat. Degoutanterweise, denn bislang ist die ZEIT nicht durch einen besonderen Hang zum Fetischismus auffällig geworden, wenn man von ihrer seltsamen Hingabe an Giovanni di Lorenzo einmal absieht. Oder doch wider dessen Neider, die nach dem Porno-Dossier in der ZEIT wieder vernehmlich mit der Moral rasseln? Er sieht nicht klar. Das ist dem trüben Licht geschuldet, das sein Geist aufs Papier wirft. Niemand von uns, und sei er noch so helle, würde bei dem bescheidenen Lichtlein scharf trennen können, und so soll ihm dies von hier aus, aus unserer sonnendurchfluteten Studierstube, nicht vorgeworfen sein.
Da, nun hat er den Daumen aus dem Mund genommen, tankt noch einmal frische Tinte, und legt los:
Träumerisch geht sein Blick ins Weite, dorthin, wo die Wand der Kammer so düster ist wie Wände seines Oberstübchens. Ach ja! Eine Lichterkette wäre eine feine Sache. Wieder kommt ihm ein Adventsliedchen ein, und er summt, das Auge verloren an die Wand geheftet: „Leise zieht durch mein Gemüth liebliches Geläute,“ welches aber bald verklingt, als er gewahr wird, wie verdammt kalt so ein kalter Ofen das Zimmer macht. Er gibt sich einen Ruck:
Warum kritteln nur wieder alle an Guttenberg herum? Er ist zurückgetreten, jetzt hat er auch noch ausführlich um Entschuldigung gebeten. Nach den Regeln der Gefühlsdemokratie gebührt dem Mann deshalb nicht Verachtung, sondern Anerkennung.
Tut es das? Und was ist überhaupt eine Gefühlsdemokratie? Und meint er, was er sagt, oder meint er das Gegenteil? Polemiken sind tückische Gesellen. Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß Guttenberg um irgendwas gebeten hätte, ein Guttenberg bittet nicht, ein Guttenberg schafft an. Federkauend gibt Fleischhauer es sich zu. Der Mann hat’s gut! Der tritt des Morgens um sieben auf die Freitreppe, gewichste Reitstiebel, Peitsche, fuchsrotes Wams, läßt das Gesinde Habacht stehen und befiehlt, daß man ihm verzeihe. Und wehe, da tanzt einer aus der Reihe! Schon mancher hat die Peitsche schmecken müssen.
Wieder träumt unser Dichter sich in eine freundlichere Welt hinein, bis die Kälte der Kammer ihn an den Härchen seiner Gänsehaut zurück in die Realität zieht, die bittere. Er hat sich nicht entschuldigt, der Herr Baron, nicht einmal bei ihm, dem Dichter. Der doch einst ein glühender Verehrer Guttenbergs war, damals, als dieser ein gut geölter Stachel im Fleisch der trägen Bürgerschaft gewesen, im faulen, selbstgefälligen Fleisch des Bürgers, welcher den Dichter als Hungeleider zu bezeichnen liebt, und dessen Hunde den Dichter nicht beachten, weil es sich nicht lohnt, weil es an seinen Hosenaufschlägen nichts zu schnüffeln gibt, was der Mühe wert wäre. Ja, damals! Da war Guttenberg sein Held.
Doch dann hatte der alles daran gesetzt, sich als der Turbotrottel darzustellen, der er anscheinend tatsächlich ist. Hatte sich bäuchlings in jede Mistlache geworfen und anschließend mit Aplomb auf die besudelte Weste und das ruinierte Einstecktüchlein gewiesen, das ihn als Angehörigen der Oberkaste der Westen- und Einstecktüchleinträger ausweise, als einer mithin, dem nachzusagen, daß ihm das Mistlachenwasser aus dem Beinkleid rinne, sich für die übrigen Kasten nicht schicke. Und aus war es mit der Stachelkarriere. Ein Stachel, auf den die Leute mit den Fingern zeigen, und seien es die Finger eines Unberührbaren, taugt nicht länger zum Stachel.
Dafür, dafür hätte Guttenberg sich zu entschuldigen, dafür, und für sonst gar nichts.
Aber wie fängt man es an? Dem Bürger Scheinheiligkeit unterstellen, klar. Und zweierlei Maß. Zweierlei Maß ist gut. Zweierlei Maß ist sehr gut.
Zweierlei Maß hat aber den Nachteil, daß man ein Gegenbeispiel braucht: hat denn der Bürger schon einmal, als sich ein anderer Trottel so trottelig benahm, mit längerer Elle gemessen? Wie denn, wo denn, wann denn?
Er steht auf und tritt ans Fenster. Duster draußen, und doch, heller als hierinnen. Das feine Z des Mondes leuchtet über das schimmernde Häusermeer hin. Zu schneien hat es aufgehört. Von unten herauf klingt der Ruf des Nachtwächters: „Menschenwachen kann nichts nützen, Gott muß wachen, Gott muß schützen.“
Aber ja! Er schlägt sich die kälterote tintenblaue Hand vor die Stirn. Aber ja doch! Da hatte es doch vor Jahr und Tag die Hexe Margot gegeben, die männiglich auf den Senkel ging, aber das Volk zu verzaubern gewußt hatte, ganz ähnlich wie Guttenberg übrigens. Und die, als sie gefehlt hatte, gefesselt in den Hexenteich geworfen worden war, aber wieder an die Oberfläche gekommen, weshalb man ihr – fälschlicherweise – alles vergeben hatte, denn unschuldig wäre sie ja nur dann gewesen, wenn sie untergegangen wäre.
Der also will Fleischhauer den Guttenberg nun vergleichen, auch wenn dieser Vergleich für Guttenberg nicht schmeichelhaft ist und ihn auch noch das Residuum seiner Restreputation kosten kann, denn mit Hexe Margot verglichen zu werden, ist nun wirklich keine Kleinigkeit. Das spürt auch Fleischhauer, aber er setzt sich über seine Bedenken hinweg. Selber schuld! Was hatte Guttenberg ihn auch so hintergehen müssen.
Hei, wie die Feder nun übers Papier fegt!
Gleich Guttenberg hatte Hexe Margot sich, nachdem sie Scheiße gebaut hatte, hingestellt, gesagt, sie habe Scheiße gebaut, und ihre Ämter niedergelegt. Das Volk hatte geweint. Gleich Hexe Margot hatte Guttenberg, nachdem er Scheiße gebaut hatte, gesagt, er pflege keine Scheiße zu bauen, denn er sei nicht dazu erzogen worden, Scheiße zu bauen. Aber anstatt seine Erziehung zu würdigen, darob zu erschauern und in sich zu gehen, hatte das Volk geschrieen: „Hinweg mit diesem, gebt uns die Hexe Margot los.“ Und genau wie Hexe Margot hatte Guttenberg sich an seine Ämter geklammert, und je heftiger das Volk schrie „Hinweg mit diesem!“, desto heftiger klammerte er sich. Schließlich kriegte das Volk seine Beinkleider zu packen und zerrte daran, und während es noch schrie „Hinweg mit diesen Beinkleidern!“, löste sich die Gürtelschnalle, und verlor der Reißverschluß die Sinne, und schließlich hing Guttenberg ganz ohne Beinkleider an seinen Ämtern, aber er dachte gar nicht daran, loszulassen. Darin war er genau wie Hexe Margot.
Und während das Volk noch schrie „Hinweg auch mit den Unaussprechlichen!“ klammerte sich Guttenberg immer weiter an seine Ämter, sagte, er sei nicht dazu erzogen worden, seine Pflichten zu vernachlässigen, und seine Pflicht sei es, sich an seine Ämter zu klammern, und er klammerte sich mit einer Hand an seine Ämter und mit der anderen Hand an seine Erziehung und mit der dritten an seine Herkunft und sagte: „So weit kommt’s noch, meine Damen und Herren, soweit kommt’s noch!“ Und als das Volk auch seine Unaussprechlichen zu packen kriegte und daran zerrte, ließ er immer noch nicht los, und schließlich mußten auch jene dahin, und er ließ immer noch nicht los. Und ob es gleich Februar war, so vermochte er doch ein mächtig pralles Glied, denn jenes wurde auch bei Eis und Schnee befeuert allein durch seine Eigenliebe, welches das einzige Feuer ist, das sich nicht selbst verzehrt.
Auch darin war er ganz wie Hexe Margot.
Seine Finger kriegte man schlußendlich nur dadurch von „ihren“ Ämtern, indem man den Werkzeugkasten holte, mit dem Hammer auf jeden einzelnen draufhaute, die Nägel mit der Kneifzange herausriß und anschließend mit der Glut einer heißgerauchten Zigarre auf das empfindliche Fleisch tupfte. Da ließ er endlich los, aber es war immer noch knapp.
Seht Ihr die Parallelen zu Hexe Margot? Und seht Ihr die doppelte Moral des „Volkes“? Seht Ihr Sie?
Fleischhauer schiebt sich den Finger unter den Kragen. Ihm ist beim Schreiben doch tatsächlich warm geworden. Steif erhebt er sich. Tagt es schon? Nein. Aber die Mondsichel ist auf gutem Wege zum Horizont. Von drunten bläst der Nachtwächter sein „Gott muß wachen“ herauf. Na, war das eine Polemik? Da liegt es unter ihm, das schlafende Volk. Schläft den Schlaf des Selbstgerechten, schläft auf sanften Kissen und hat doch so unendlich vieles auf dem Gewissen! Bewacht nur von Gott und von ihm, Fleischhauer, der darauf achtet, daß es sich nicht ganz und gar verrennt. Leis summt er eine Weise, in der der ganze Zauber der friedlichen Vorweihnachtszeit gefangen ist: „Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün.“
Dann gähnt er, daß die Kiefer knacken.