Heute: Öffentliche Gelöbnisse
„Ich schwöre, nicht mit falscher Elle zu messen, nicht auf Kante zu nähen, kein Tuch auf die Seite zu schaffen, dem Schneiderhandwerk die Treue zu halten und mir’s von keinem Teufel wehren zu lassen, pfui Blase, ja das schwöre ich, so wahr mir noch zu helfen ist.“
Auf einen Zapfenstreich sind am Sonntag Abend vor dem Berliner Reichstag 500 Schneider und Flickschneider vereidigt worden. Vor zahlreichen Ehrengästen auf der Tribüne, darunter auch der ein oder andere Politiker, den man dorthin getragen hatte, sprachen die Schneider die traditionelle Eidesformal, begleitet von einem Stabsmusikbataillon mit Bumsmusicke und Tschinderassa. Bundeskanzlerin Angela Merkel mußte mehrfach heftig gähnen, als die 500 im Gleichtakt mit einstudierten Bewegungen 3500 Fliegen von 500 Mustöpfen verscheuchten.
Im Vorfeld des Ereignisses war es noch einigermaßen hoch hergegangen, am Abend selbst machten die Beteiligten eher den Eindruck, als wüßten sie weißgott besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als hier vor aller Welt den Kasper zu geben.
Die öffentliche Schneidervereidigung findet jedes Jahr zu Ehren der Schneiderinnung statt, der damit die Ehre gegeben werden soll, weil sie auf dem Felde der Ehre so tapfer ihr Männlein steht und mit jedem Streich siebene erlegt. Außerdem hat einer der ihren im Jahr 1944 Tom Cruise eine häßliche Uniformhose geschneidert, die diesen überhaupt nicht kleidete und ihm gar nicht gut zu Gesäß stand. Das deutsche Volk, ein Volk von Bahnsteigkartenlösern, ist sehr stolz auf diesen Schneider, weil er ein Symbol dafür geworden ist, daß auch ein Volk von Bahnsteigkartenlösern zu eindrucksvollen Akten des Widerstandes fähig ist, wenn man es denn zuvor eine Bahnsteigkarte lösen läßt. Daher hat es der Schneiderinnung dieses Gelöbnis gestiftet.
Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein war dieses Gelöbnis eine reine Verwaltungsangelegenheit, wurde von den Handwerkschaftskammern im Rahmen der Gesellenfreisprechung en passant mit erledigt und ging im Bier unter. 1980 wurde auf Betreiben des Kommunistischen Bund Westdeutschland, der dieses Ereignis für einen öffentlichen Schwanzvergleich benutzen wollte, erstmals ein Gelöbnis unter feierlichem Himmel ausgetragen. Allerdings zog der KBW gegen die tapferen Schneiderlein den kürzeren, löste sich bald danach auf, und empfahl seinen Mitgliedern, auf Reaktionär umzuschulen.
Nachdem sich im Rahmen der von Alice Schwarzer gewünschten Pornographisierung der Gesellschaft (A. Schwarzer) die Unart durchgesetzt hat, nunmehr alles, was Delicatesse und Takt bis dahin ins Reich des Privaten bzw. den Schutz der Dunkelheit und des hochgeschlagenen Mantelkragens verwiesen hatte, in die und in der Öffentlichkeit zu treiben, findet die Belobigung der Schneider seit 1996 im Freien statt. 2008 sollte sie erstmalig vor dem Reichstag aufgeführt werden, weil sich männiglich gefragt hatte: „Was? Sind wir solche Kerle? Das soll die ganze Stadt erfahren. Ei was, Stadt! die ganze Welt soll’s wissen.“
Aber wie Politiker so sind, hacken sie einander auch keine Beine aus, so fetzen sie sich doch auf eine Art, daß die gerinfügig Beschäftigten in den Kanzleien nachher ganze Säcke voll Federn fortschaffen dürfen: Merkel will die Aufführung vor dem Brandenburger Tor, Steinmeier ist der Ort, an dem das Puddingattentat auf Humphrey Bogart scheiterte, zu geschichtsträchtig für einen letztlich doch eher operettenhaften Event, Wowereit meint, wo ein Christopher Queer Day stattfinden könne, könnten auch zwei stattfinden, und 500 Schneider in lustigen Wämsen und mit besticktem Koppel, das sei doch mal was anderes, und Westerwelle meint, es sei „instinktlos, schamlos, geschichtslos und dumm“.
Was?
Egal, er Westerwelle sei ohnehin nicht daheim, sondern habe Urlaub und erhole sich als verdienter Kämpfer für das Wohl des Mittelstandes vom schweren Tagwerk des Kampfes für das Wohl des Mittelstandes.
Letztlich war’s ein Kompromiß, der die Aufführung des Spektakulums vor dem Reichstag möglich machte. Kaum war der Kompromiß in feuchten Tüchern, ging der Run auf die Flugbereitschaft der Bundeswehr los, die traditionell dafür zu sorgen hat, daß am Wochenende nicht allzuviele Politiker in Berlin anwesend sind und möglicherweise Interviews geben. Nur die, die aus Altersgründen oder Drömmeligkeit keinen Flieger mehr abbekamen, verhinderten, daß die Schneider diesmal vor leeren Rängen und dienstverpflichteten Bundeswehrsoldaten vereidigt werden müßten.
Wie immer, so taten sich auch diesmal ein paar späte Nachfahren des KBW, die es noch nicht bis in Ministerien, Chefredaktionen oder Stiftungsvorstände geschafft haben, als Störer hervor, führten Volkstänze auf der Fanmeile auf, tröteten auf Tröten, trillerten auf Pfeifen und hielten Bettlaken und Stöcke mit Papptafeln oben dran in die Luft. Siebene von ihnen, auch das gehört zur Folklore, ließen sich von der Polizei abführen.
Auch hier ging es eher beschaulich zu. In früheren Jahren waren Proteste gegen die Schneidervereidigungen heftiger; ob auch wirkungsvoller, steht dahin. Nichts, so vermuten Fachleute von Quastel bis Germanistenfuzzi, nichts diskreditiert atavistische Rituale so wirkungsvoll wie das Gähnen Angela Merkels.
Völlig unbeeindruckt von den Störern zeigte sich eins der frischvereidigten Schneiderlein. „Junge, mach mir den Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen! Ich habe siebene mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein gefangen und Tom Cruise eine häßliche Uniformhose angedreht -: und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Absperrung stehen?!“