Bis zum heutigen Tag schmückt die Band Scorpions aus Hannover ihre Website mit dem Text eines 1991 entstandenen Liedes. Es handelt sich um eine windelweiche Eierkuchenballade, in der ein nicht sehr helles lyrisches Ich Frieden, Freuden und den Zauber einer weggeträumten Nacht unter lauter Kindern von Morgen besingt, mit anderen Worten: Eitelkeit, lauter Eitelkeit und Haschen nach lauwarmem Wind.
Allein die englische Sprache, in der das Lied abgefaßt ist, verbirgt vor den Ohren des unbedarften Hörers den Schmarren, der allen Ernstes unterstellt, es könne (und werde!) auf dieser Welt sich irgendetwas zum Besseren kehren, trotzdem (und obwohl!) Texter vom Schlage eines Scorpions-Texters frei auf der Welt herumlaufen, und erlaubt ihm, sich der Vanille des von den Gitarrensaiten tropfenden Hardcoresirups hinzugeben.
Der Text gehört auf die Scorpions-Platte „Wind of Change“ (auf Deutsch: „Blähungen“) von 1991. Mit der Single schafften die Hardrocker um Gitarrist Rudolf Schenker und Sänger Klaus Meine nach eigenem Bekunden den Durchbruch in ihrem Metier.
17 Jahre sind seitdem vergangen. Doch der Text ist plötzlich kein Geheimtipp für Sudelsammler auf Trashmärkten mehr, sondern Gegenstand einer internationalen Debatte um Pornographie und Freiheit der Medien. Denn die britische Internet Watch Foundation (IWF) hat dafür gesorgt, daß die meisten britischen Internetnutzer einen Artikel auf Wikipedia über die Scorpions-Schallplatte nicht mehr aufrufen können.
„Der Inhalt galt als womöglich illegaler, auf jeden Fall hanebüchener Appell an die niedrigsten Instinkte des intellektuellen Prekariats“, heißt es bei der IWF, einer Art Selbstkontrolle des Internets in Großbritannien. Nun sind nach Angaben der Foundation die großen Internetanbieter des Landes der Empfehlung gefolgt und haben die Internetadresse des Wikipedia-Artikels für Nutzer gesperrt. Die Folge: Rund 95 Prozent der Online-Besucher auf der Insel können weder den Artikel selbst noch die faksimilierte Dokumentation des Textes von „Wind of Change“ aufrufen.
Bei uns Journalisten, die wissen, wie Wikipedia funktioniert, und daß die Trottel die anderen sind, hat die Angelegenheit für aufgescheuchtes Gegacker gesorgt. „Das IWF hat nicht nur das Faksimile blockiert, sondern den Zugang zum eigentlichen Artikel, der den Text auf neutrale, enzyklopädische Weise diskutiert“, sagt Sue Gardner, Chefin der Wikimedia Foundation in Los Angeles, die auch für die britischen Inhalte des freien Online-Lexikons verantwortlich zeichnet.
Für die Guten Journalisten, also uns, die wissen, daß es im Internet keine Zensur geben kann, oder geben dürfte, oder geben sollte, ist dies ein bisher beispielloser Eingriff in die Medienfreiheit im Internet. Noch nie sei Wikipedia in Großbritannien auf diese Weise zensiert worden.
Der aufgeklärte Teil der Presse, das sind wir, fürchtet nun, daß das Beispiel international Schule macht. In Deutschland, wo es kürzlich ein Trottel aus der Linkspartei bis in die Wikipedia geschafft hat, indem er den Zugang zu seinem eigenen Eintrag lahmlegen ließ und die Presse dazu einlud, fürchtet der Verein Wikimedia neuerliche Angriffe. „Wir sind sehr für die Kontrollen gegen Pornografie, aber wir glauben nicht, daß das Verbot der Dokumentation von Liedtexten der richtige Weg ist“, sagt Catrin Schoneville, Sprecherin von Wikimedia Deutschland, dem Käsdorfer Metropolitan (KM).
Die Wiedergabe des Scorpions-Textes ohne einen Kontext sei sicherlich kritisch. „Doch im Zusammenhang mit einem lexikalischen Artikel zählt das noch zum Bildungsauftrag“, meint Schoneville. Sie verweist darauf, daß jenes Lied ohnehin noch im minderbemittelten Rundfunk gesendet werde. Auch in Online-Shops wie Amazon läßt sich das glitschige Etwas kaufen – dorthin haben auch britische Internetnutzer weiterhin Zugang.
Wikipedia selbst findet die Zensur großartig. Endlich können sich die Wikipedianer wieder mit sich selbst beschäftigen und unter allen möglichen Stichworten („Scorpions“, „Zensur“, „Wikipedia“, „Nabelschau“) Hinweise auf die Wikipedia unterbringen.
In Deutschland („Preußen“, „Bürokratie“, „Bahnsteigkartenautomat“, „Untertanengeist“) plant man gar die Einrichtung eines Beirats („Bürokratie“, „Untertanengeist“, „Preußen“, „Bahnsteigkartenautomat“, „Beirat“) aus Medienspezialisten, Politikern, Behörden und Beiräten.
Das Gremium könnte strittige Inhalte diskutieren und jeden Skandal bereits im Vorfeld seiner Skandalwerdung zu Tode verwalten. „Angestachelt durch die Ereignisse in Großbritannien soll der Beirat möglichst noch im Januar zusammengestellt werden“, sagt Wikipedia-Sprecherin Schoneville.
Der Text der Scorpions war zuvor diverse Male Gegenstand einer Pornografie-Debatte. Zunächst bandintern: Nach der Erstveröffentlichung des Single 1991 kam die Platte im Jahr darauf als Instrumental heraus, gepfiffen von Ilse Werner.
„Damals war das eine Art Selbstzensur, die Band wollte einfach keinen Ärger“, sagt Roland Seim, Co-Autor des Buchs „’Nur für Erwachsene’ – Rock- und Popmusik: zensiert, diskutiert, unterschlagen“ sowie Autor des Buchs „Was haben wir Erwachsenen eigentlich getan? Wieso müssen immer wir uns diesen Schleim reinziehen?“. Hintergrund: Die Band wollte ihren internationalen Erfolg ausbauen. In Japan erreichte die LP mit dem unterdrückten Text 1992 einen Platz unter den Top 50.
Der deutsche Zensur-Experte aus Münster glaubt zwar, daß der in Verruf geratene Text „im weitesten Sinn“ als Kunst gelten kann. „Andererseits war der Text ja bloß ein Ranschmeißer“, meint Seim. Dabei ist es nach Ansicht des Soziologen zumindest fraglich, ob die Verwendung der Phrase „Children of Tomorrow“ gegen die Menschenwürde verstößt.
Scorpions-Gitarrist Rudolf Schenker, so ist es in dem jetzt in Großbritannien zensierten Wikipedia-Beitrag zu lesen, hat den Text im Nachhinein gerechtfertigt. „Der Songtext sagt doch alles. Ein Kind kommt sehr naiv zur Welt; dann wird es Scorpions Gitarrist und wird noch ein bißchen naiver. Später verlieren sie diese Naivität, stürzen in dieses Leben und verlieren dabei all’ das und merken, womit man den Naiven im Publikum das Geld wirklich aus der Tasche ziehen kann“, wird Schenker zitiert. Das sei die Grundidee des Ganzen gewesen.
Klaus Meine, Songschreiber des Songs und damals Sänger der Scorpions, sieht hingegen keinen Anlaß mehr, das Machwerk zu verteidigen. „Wenn ich heute das Lied anhöre, läßt es mich erschauern“, sagte Meine in einem Interview mit dem Käsdorfer Metropolitan. „Es kommt zu ganz seltsamen Phänomenen: man möchte sich fremdschämen, aber dann merkt man, daß man ja gar kein Fremder ist, sondern sich eigentlich für sich selber schämen müßte. Dafür schämt man sich dann natürlich.“
Germanistenfuzzi, der sich des Jahres 1991 noch aus eigener Kraft entsinnt, präzisiert: „Sich das Lied anzuhören ist, wie sich in Winter in die Hose pinkeln. ’Laß laufen’, denkt man, und zuerst ist es ja auch schön warm. Aber nachher schrinnt es.“
Die Geschmacksfrage diskutieren auch Wikipedianer kontrovers, wie Catrin Schoneville berichtet. Die Sprecherin von Wikimedia in Deutschland meint jedoch: „Zum Skandaltext würde ich diesen 17 Jahre alten Appell an das Naivchen im Menschen trotzdem nicht hochstilisieren.“
Leider ist die Sperrung heute wieder zurückgenommen worden.
Gute Ohrstöpsel gäbe es unter http://www.gute-ohrstoepsel.de. Schade, daß es die Adresse nicht gibt.