Morton Stein

Vom Älterwerden

Harold Morton Stein wird älter. Das kann er nicht unkolumniert lassen, und das wird er nicht unkolumniert lassen. Da hätte das Alter eben besser aufpassen müssen, mit wem es sich anlegt.

Ich führe bei mir ein kleines Brevier der kleinen Dinge, der Dinge, die hoffentlich noch unkolumniert sind und die sich dazu eignen, kolumniert zu werden. Dazu müssen sie erst einmal übersehen werden, aber dann kann man sie aufspießen, aufpolieren, in die Kleine Form bringen, gut ausleuchten – und dann wird man dafür bewundert. Dafür, daß man auf der Straße nicht einfach daran vorbeigelaufen ist, sondern stehengeblieben. Daß man seine Augen nicht wie üblich in der Hosentasche gehabt hat, und daß man sich nicht zu schade war zum Bücken. Auf die Dauer schwillt so ein Brevier an, denn nicht alle Dinge eignen sich gleichermaßen zur Veredlung. Außen hat das Brevier einen Einband, innendrin aber ist es alphabetisch.

Das Brevier selbst gehört zu den kleinen Dingen mit ‚B‘, und die Dinge als solche gehören zu den kleinen Dingen mit ‚k‘, oder mit ‚D‘, je nachdem, ob man das Attribut ‚klein‘ als konstitutiv für die Dingheit der kleinen Dinge ansieht. Man sollte es. Die großen Dinge sind nicht unbedingt klein, und eignen sich nur bedingt für die Kleine Form.

Ich habe mich im Rahmen dieser Kolumne bisher über die Haare und die Hornhaut ausgelassen, und das Thema der heutigen Kolumne ist ebenfalls eines der kleinen Dinge mit ‚H‘: die Hämorrhoide. Rein äußerlich zeichnet sich die Hämorrhoide dadurch aus, daß sie nicht rein äußerlich ist. Sie ist auch nicht rein innerlich, unentschieden west sie im Schatten, an der Dammnaht zwischen Innenwelt und Außenwelt, dort ist ihre Heimat, dort ist sie zuhause und ausgesprochen seßhaft. In früheren Zeiten, als wir Steppenbewohner noch flinkfüßige Nomaden waren und noch nicht die Vielsitzer von heute, da hatten wir vielleicht den Fersensporn. Heute haben wir vermehrt den Siebensitzer, da, wo es früher vielleicht der Zweisitzer getan hätte. Oder wenigstens der Viersitzer, aus dem heute allerdings der Viertürer geworden ist. Und aus dem Viertürer der Fünftürer. Mit optionaler dritter Sitzreihe. Dazu paßt die Hämmorhoide. Besser als der Fersensporn. Sie ist die Begleiterin des Sitzenden.

„Wir müssen zusammen sítzen“, pflegte mein Kollege H. zu sagen, wenn er sagen wollte: „Wir müssen uns zusammensetzen.“ Der Idiomatik noch nicht bis ins letzte Divertikel Herr, machte er instinktiv richtig, was wir falsch machen, und legte den Fokus auf die Dauer der Sitzung, nicht deren Beginn.

Die Dauer: ein kleines Ding mit ‚D‘, aber ein großes Problem. Auf die Dauer jedenfalls. Mit jeder Hämorrhoide steigt die Dauer der durchschnittlichen Sitzung an, was die Sache nicht besser macht. Mit jedem Tag auf Erden steigt die Dauer meines Wandelns dahier. Auch das ist nicht schön. Irgendwann werde ich den Fersensporn kriegen. Ich bin jetzt 53, nein falsch, ich bin Jahrgang 53, und das nicht erst seit vorhin. Schon immer. Ein schwieriger Jahrgang. Wir sind so unentschlossen. Wenn wir drei Stühle beisammen sehen, können wir uns nicht entscheiden, zwischen welchen zwei wir sitzen wollen. Links sitzt der Jahrgang 52, fest in sich selbst ruhend, keine Selbstzweifel von innen kennend. Wo er einmal sitzt, da sitzt er. Die Reglosigkeit ist ihm Programm. Und die nach uns kommen, die sitzen mal hier mal da. Von dort ist keine Orientierung zu erhoffen. Keine Beständigkeit ist da, kein Konzept, kein Rückgrat, kein Korsett. Ein Pudding am Nagel. Dazwischen wir. Ich zum Beispiel kann mich nicht entscheiden, auf welcher Backe ich sitzen will, auf der rechten Backe, oder auf der linken Backe. Fest steht nur, auf beiden Backen gleichzeitig geht es zur Zeit nicht.

So trippelt man vom rechten auf den linken Fuß, bis sich schließlich einer der beiden für den Fersensporn entscheidet, und man kann es sich aussuchen, was unangenehmer ist: Hämorrhoide oder Sporn. Das heißt, wenn man es kann. Ich kann es nicht. Wenn ich in meiner Ratlosigkeit zu Ilse gehe und sie frage, ob sie lieber einen Partner mit Fersensporn hätte oder einen mit hämorrhoidaler Disposition, dann schließt sie nur die Augen und bewegt die Lippen. Einmal fand ich in der Küche einen bleistiftgeschriebenen Einkaufszettel, mit den rätselhaften Worten auf dem Rücken: „Dir bleibt immer noch Paris, Ilse! Dir bleibt immer noch Paris.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.


− 5 = vier

Navigation