Harold Morton Stein wird älter. Das kann er nicht unkolumniert lassen, und das wird er nicht unkolumniert lassen. Da hätte das Alter eben besser aufpassen müssen, mit wem es sich anlegt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein kleines Kolumnenbrevier, das Brevier der kleinen Dinge, schon zum Gegenstand einer kleinen Dingbetrachtung gemacht habe. Ich will es annehmen, aber sicher kann ich nicht sein. Ich bräuchte eigentlich ein zweites Brevier, in dem ich die erledigten Dinge eintrage, damit ich weiß, daß sie erledigt sind. Aber ich vergesse immer, mir eines mitzubringen. Hinterher weiß ich zwar, daß ich eines mitbringen wollte, und vorher weiß ich es auch, aber das nutzt mir ja währenddessen nichts. Hinterher übrigens auch nicht. Vorher würde es mir nur dann was nützen, wenn ich währenddessen dran denken würde, was ich aber meistens vergesse. – Doch wem erzähle ich das?
Jemandem, der von meinem Brevier schon weiß. Tut er aber auch, wenn ich mich richtig erinnere. Da ich mir dessen aber nicht sicher sein kann, erzähle ich es lieber noch einmal.
Schön ist das nicht. Ich möchte nicht enden wie der Kollege H., der immer die gleichen Anekdoten erzählt und sich partout nicht merken kann – oder will -, wem er sie schon erzählt hat (Mir!). Aber in der Güterabwägung – einmal zuviel vs. einmal zuwenig – entscheide ich mich dann trotzdem lieber für einmal zuviel. Wenn ich nachts harndranghalber wach werde, und eine Entscheidung bezüglich eines Toilettenganges fällen muß, entscheide ich mich auch lieber für einmal zuviel, als einmal zuwenig. Das Zuviel hat in dem Fall ganz praktische Vorteile gegenüber dem Zuwenig. Ich stelle daher heute vor, aus meiner Serie „Kleine Dinge mit ‚H'“: Harndrang, nächtlicher.
Er gehört zu den weniger geschätzten Begleitern des Älterwerdens, wird aber andererseits gemildert durch die zunehmende Vergeßlichkeit. Wenn ich mich heute frage, ob ich in der vergangenen Nacht Harndrang verspürt habe, so antworte ich mir: Harndrang? Letzte Nacht? – Ich nehme es mal an. Aber sicher kann ich mir nicht sein. Er ist, der nächtliche Harndrang, eine Sache des Augenblicks. Sehr hier und sehr präsent, wenn zugegen, aber auch sehr weg und sehr vergessen, wenn nicht mehr da. Kaum wert, daß man Aufhebens davon mache. Es sei denn, man hauste in einem finnischen Mökki, bei minus 18° und anderthalb Fuß Neuschnee und ausgelagerten sanitären Anlagen. In welchem Fall der Harndrang zum ernstzunehmenden Gegner wird. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr ich in Finnland gewesen bin – ich bin 53, Jahrgang 53, es muß also zwischen 1953 und heute gewesen sein. Vielleicht auf halbem Wege? 1983? – Ein gutes Jahr! Auch wenn man die Achtziger als Jahrzehnt glatt vergessen kann. Eine Dekade, die von sich selbst sagt, wer sich an sie erinnern könne, sei nicht dabei gewesen – phh! was ein Schmarrn. Ich war dabei und kann mich genau erinnern: die kann man vergessen! Allen voran 1982. Und was nach 83 kam, gleich mit.
83 ist das Jahr. Ich wurde dreißig, und hatte in der Nacht mit einem der unvergeßlichsten Harndränge zu kämpfen, die ich je niedergerungen habe. Aber ich will verdammt sein, wenn ich noch einen meiner dreißig Geburtstagsgäste mit Namen kenne. Ich weiß noch, daß ich zu irgendjemandem immer was anderes gesagt habe, ich weiß nicht mehr, was, und ich weiß auch nicht mehr, zu wem. Anke statt Antje, oder irgendetwas in der Art. Oder umgekehrt. Hinterher wußte ich es dann, aber da nutzte es nichts mehr. Ich will nicht hoffen, daß es Ilse war. Aber was hätte ich zu Ilse sagen sollen, anstatt Ilse? Inge? Ines? Ich hoffe nicht, daß ich eine Ines kenne. Bzw. gekannt habe. Oder habe ich eine Inke gekannt und Ilse zu ihr gesagt?
In diesem Jahr werde ich sechzig werden. Ich hätte Lust, in Finnland zu feiern. Mit sechzig Gästen, und mitten in der Mückensaison. Damals hatte ich 53 Stiche auf dem Rücken. Ines hat sie gezählt. Aber in welches Mökki mit ausgelagerten Sanitäranlagen kriegt man sechzig Leute? Außerdem will ich verdammt sein, wenn ich sechzig Leute auch nur vom Sehen kenne. Geschweige denn beim Namen.
Als ich letztens vom nächtlichen Toilettengang zurückkam und Ilse weckte und sie fragte, ob es eine Imme oder eine Imke gewesen ist, zu der ich immer Ilse gesagt habe, stellte sie sich tot. Später hörte ich sie unter der Decke murmeln: „Dir bleibt immer noch Paris, Ilse. Dir bleibt immer noch Paris.“