Morton Stein

Vom Älterwerden

Harold Morton Stein wird älter. Das kann er nicht unkolumniert lassen, und das wird er nicht unkolumniert lassen. Da hätte das Alter eben besser aufpassen müssen, mit wem es sich anlegt.

Ich hatte als Kind ein dickes Buch mit Märchen, mit dem ich mich gerne auf den Sessel neben den Dauerbrandofen meines Opas setzte. Dort war es heiß und trocken. Das Holz der Armlehne war spröde geworden, obwohl ein blecherner Schirm den Sessel vor der Ofenhitze schützen sollte. Man konnte den Unterarm in seinem Wollärmel auf den Blechschirm legen und ausprobieren, wie lange man es aushielt. Gegenüber saß mein Opa, trotz der Hitze in eine Decke gemümmelt, und hatte Asthma. Hin und wieder beugte er sich vor, um in einen Napf zu spucken.

In dem Buch ging es, während ich die Beine mit auf den Sessel nahm, und die Holzarmlehne an den Rückenwirbeln spürte, hoch her. Da gab es Drachen mit sieben Köpfen, die versuchten, mich mit dem Feuer ihrer sieben Rachen zu dörren. Und im Waldhaus konnten die Tiere reden, sagten aber immer nur das unterirdisch grummelnde unverständliche ‚Duks‘. Wenn ich heute nach Lesungen eine Restauration aufsuche, in der Duckstein ausgeschenkt wird, dann muß ich damit leben, daß unsensible Zeitgenossen – oder, wie ich manchmal versucht bin, zu sagen: Zeitgenossen – bei der Bedienung ein ‚Ducks‘ in Auftrag geben. Ich bekomme dann immer eine Gänsehaut.

Damit will ich mich nicht als den hypersensiblen Zeitgenosse darstellen. Das will ich nicht. Obwohl ich natürlich schweinesensibel bin. Geradezu dünnhäutig. Anders könnte ich meinen Beruf gar nicht ausüben. Wir werden dafür bezahlt, daß wir sensibel sind, wir Kolumnisten. Der Leser will das. Immer wieder kommen nach Lesungen Damen zu mir und loben mich für meine Sensibilität. Ich denke dann bei mir: das hätte euch vor 43 Jahren auch schon mal einfallen können! Ich bin nämlich 53. Jahrgang 53. 1953. Ein hochsensibler Jahrgang. Ich will nicht sagen, daß der Jahrgang 52 nicht sensibel gewesen wäre, denn das war er nicht, bzw. das war er doch. Aber er war schon gekippt. Der war zu sensibel. Das war schon Essig. Und von denen, die nach uns kamen, wollen wir schweigen. Und als ich 17 war, kamen die Damen keineswegs zu mir, um mich zu loben, oder Autogramme zu fordern. Aber das denke ich nur bei mir, das sage ich ihnen natürlich nicht. Denn das implizierte ja, daß ich sie für älter hielte als 43. Das sind sie zwar, aber warum soll ich mir das eingestehen? Was ist falsch daran, in einer Märchenwelt zu leben, in der die Damen jung sind und die Dichter höflich?

Und die Schleimhäute intakt. Jedenfalls die Nasenschleimhäute. Ich hätte mir als sensibler 17jähriger nicht träumen lassen, wie boshaft das Alter sein kann. Meine Nasenschleimhaut fühlt sich an, als sei sie in Drachenfeuer gedörrt. Tocken. Was noch gar nicht mal das Schlimmste wäre, einer, der Tage und Wochen und ganze Winter neben dem heißen Ofenschirm verbracht hat, der hat die Feuerprobe bestanden. Der ist geglüht, gestählt und zum Manne gemacht. Der kann was vertragen. Obwohl so eine trockene Nasenschleimhaut schon grenzwertig ist. So wie das Wort ‚grenzwertig‘, das ist auch grenzwertig. Ein sensibles Ohr kann empfindlich reagieren, wenn es das Wort ‚grenzwertig‘ zu oft hören muß. Auch ein Trommelfell kann veröden. Sagen wir: eine trockene Nasenschleimhaut ist schlimm. Schlimmer aber ist, daß sie anschwillt, die Haut. Was muß sie schwellen? Was hat die Schwulst für einen Sinn? Wär’s nicht besser, sie schwölle nicht?

In einem der Märchen gab es einen Soldaten, der hatte fünf Kumpel, und zusammen kamen sie durch die ganze Welt. Da war einer dabei, der konnte in der Ferne sieben Windmühlen betreiben, indem er das eine Nasenloch zuhielt und durch das andere blies. Mein linkes Nasenloch ist so zugeschwollen, daß ich damit sieben Windmühlen anhalten kann.

Nicht fern von hier, zwischen Käsdorf und Brieburg, stehen sieben Windräder.

Sie stehen.

Seit zwei Jahren geht das so. Anders als der Bläser im Märchen, muß ich mir das Nasenloch nicht zuhalten, sondern ich muß es mit den Fingerspitzen so zu weiten suchen, daß ein feiner Luftstrom hindurchfindet. Anders bekomme ich an manchen Tagen nicht genug Luft. Ich nenne es Yoga: bewußt atmen. Man bekommt ein ganz anderes Körpergefühl. Man lernt sich kennen. Man weiß, wie eine Nasenwand sich anfühlt, wenn sie normal, und wie, wenn sie geschwollen ist. Wenn ich des Morgens am Frühstückstisch meine Nasenwand abtaste und dazu probeweise dreimal tief Luft hole und sie hörbar wieder entlasse, dann kann es geschehen, daß Ilse sagt, sie habe den Kaffee auf, und sich in der Küche zu schaffen macht.

„Dir bleibt immer noch Paris,“ sagt sie dann zum Kühlschrank, „dir bleibt immer noch Paris!“

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