Themenwoche Allesfresser: Unter ZEIT-Lesern

De kloke Mann is nu vergahn
Theodor Storm, Dat is de Tid, de allns fritt
(Der kluge Mann ißt heut‘ vegan
Theodor Storm, Es ist die ZEIT, die alles frißt)

Macht ZEIT lesen einsam? Funktionieren Partnerschaften zwischen ZEIT-Lesern und normalen Leuten? Leser berichten über die sozialen Aspekte eines merkwürdigen Hobbys.

In unserem Leseraufruf haben wir unsere Leser gefragt, wie das soziale Umfeld auf die Entscheidung für ein ZEIT-Abo reagiert hat. Mittlerweile über 300 Antworten lassen mehrere Schlüsse zu: Insgesamt funktioniert das Zusammenleben von Hardcore-ZEIT-Lesern, Gelegenheitslesern und normalen Menschen überraschend reibungsarm und harmonisch. Das gilt für das familiäre Umfeld ebenso wie für Freunde und Kollegen. Einzig das Zusammensein mit einem Partner, der mit der ZEIT nicht einmal einen welken Sellerie einwickeln würde, lehnen einige Leser ab. Konflikte und Anfeindungen haben dennoch viele erlebt, besonders in der ersten Zeit und im Elternhaus. Und immer noch ist die Offenheit für Zeitungen mit einem Schlachtgewicht, das – über den Daumen gepeilt – ca. dem eines Tomahawk-Steaks entspricht, in gentrifizierten Gegenden größer als etwa am Käsdorfer Donnerstagsstammtisch, wo es fünf Euro kostet, wenn einer nicht an sich halten kann und das frische Blatt mitbringt. Bemerkenswert ist außerdem, daß mehr als zwei Drittel der Einsendungen von Leserinnen stammen.

Will sagen, so bemerkenswert ist es nun auch wieder nicht. Das hätte man sich auch denken können. Als wir vom Stammtisch Germanistenfuzzi vor Jahren die Kontaktannonce in der ZEIT zum Geburtstag schenkten, kriegte er 600 Zuschriften. 600! 300 würde ich mir ja noch gefallen lassen haben, aber 600? Dazu kommt, daß alles, was in dieser Annonce stand – 3 Jahre Knast wg. Betrugs und Körperverletzung, unschuldig indes, da er ja manisch-depressiv sei und sich nicht steuern könne -, gelogen war. Das kommt noch dazu. Er wollte schon gewalttätig werden, als er das las, aber dann kamen die ganzen Zuschriften, und da wurde er erst richtig böse. Aber dafür kann er nichts, er kann das nicht steuern. – 600 Zuschriften! Und alle wollten ihn retten.

Also, das hätte man schon wissen können, das mit den Frauen.

Ungefähr ein Viertel der Leser berichtet, Freunde, Familie und Kollegen hätten sich zu Beginn irritiert über die Entscheidung für ein Leben als ZEIT-Abonnent gezeigt, mit der ZEIT – pardon: mit der Zeit – sich aber daran gewöhnt. So schreibt Hesekiel08: „Meine Eltern waren in Sorge um meine Gesundheit, meine Freunde eher um die gemeinsamen Abende. Das hat sich mittlerweile gelegt.“ Heftiger fiel die Reaktion in obadjas Familie aus: „Zuerst stieß ich bei meiner Mutter auf absolutes Unverständnis, sie drohte mir sogar damit, mich rauszuwerfen, weil sie dachte, ich wäre auf bestem Weg, eine unerträglich naseweise Leserbriefschreiberin zu werden.“

Andere Leser hingegen sind sofort auf Zustimmung gestoßen: „Mein Umfeld hat auf meine Lektüreumstellung überwiegend positiv reagiert. Überrascht habe ich festgestellt, daß Freunde, von denen ich es nicht erwartet hätte, jede Woche 4 Euro 50 über- und anscheinend keinen Plan haben, was man mit 4 Euro 50 Schönes machen könnte.“ schreibt etwa Maleachi.

Gemeinsam mit Nichtlesern Themen der ZEIT zu diskutieren, ist oft noch eine Herausforderung, auch wenn die Zahl der Lokale zugenommen hat, in denen man sich die Zeitung an den Tisch bringen lassen kann. „Verabredungen geht immer ein eingehendes Profilstudium bei Facebook voraus – oft hilft es auch, sich nur mit Leuten von der einen oder der anderen Sorte zu verabreden, und die beiden nicht zu mischen“, schreibt RebekkaMitOhneStrich, „es hat keinen Zweck, zu riskieren, daß der Nichtleser als erstes die Blätter aus den Zeitungshaltern reißt, sie zu Boden wirft und drauf rumtrampelt, oder sie mit bloßen Händen zerfetzt, sie dem Leser in den Rachen stopft, um ihm anschließend das leere Holz um die Ohren zu hauen. Das eigentliche Anliegen, die gepflegte Diskussion über wichtige Dinge, z.B. über veganes Leben, kommt dabei zu kurz.“

Und habakuk1987 ist sogar in der eher traditionellen Umgebung eines Schützenvereins als ZEIT-Leser akzeptiert worden: „Mir wurde schon ein Stapel alter Landser mitgebracht und mit dem Kommentar ‚Hier, daß du mal was Vernünfiges zu lesen hast!‘ entgegengehalten. Mittlerweile weicht der Spott aber immer wieder einer Art von kuriosem Interesse. Beim Schützenfest, am Kommersabend, wackelte der Vorstandstisch. Ich hatte meine ZEIT mitgebracht, nahm die Dossierlage und legte sie unter den wackelnden Fuß, einmal, zweimal gefaltet, und siehe da, nichts wackelte mehr. Das ist von fast allen Zugkameraden für sehr gut befunden worden.“

Schwerwiegende Konflikte mit den Eltern wegen der Entscheidung für ein ZEIT-Leserleben kommen zwar vor, scheinen aber eher die Ausnahme zu sein. „Meine Eltern haben mich immer voll unterstützt, auch wenn sie selbst die ZEIT nicht mit der Kneifzange lesen würden. Sie haben aber immer Rücksicht genommen und mich ermutigt. Sie haben sich sogar Einmalhandschuhe besorgt, damit sie mir die Zeitung aus der Stadt mitbringen können“, schreibt etwa Bathseba Knüll.

Mehrere Leser haben auch erlebt, daß ihr Hobby auf die Familie abgefärbt hat. So schreibt AnnaLena: „Ich habe die ZEIT und besonders auch die Video-Podcasts von Giovanni di Lorenzo auch an meine Eltern weitergegeben und selbstverständlich auch an meinen Onkel Germanistenfuzzi. Ich hätte mir niemals erträumt, daß das möglich sein könnte, aber mein Onkel hat mir erzählt, auch er habe früher ein sehr inniges Verhältnis zur ZEIT gehabt.“

„Das stimmt,“ bestätigt der Onkel, onkelhaft nickend. „Das war, als mein Großonkel noch den Abtritt hatte, der so hieß, weil er auch so roch. Man mußte durch den Schweinestall, und der Abtritt selbst bestand aus weiß gekalktem Mauerwerk, Spinnweben, Spinnen von der Größe einer Kinderfaust, einem Brett, einem kreisrunden Deckel in demselben, und dem, was darunter war, wenn man den Deckel weg nahm. Darüberhinaus fehlte der Abzug. Ich war noch jung, und konnte noch nicht lesen, aber ich entwickelte ein gutes Gespür für die Saugfähigkeit der Blätter, die neben dem Holzdeckel lagen und die meine Großtante mit einer Schere aus Zeitungen und Illustrierten herstellte. Die „Bunte“, die „Neue Revue“ und „Die kluge Hausfrau“ hatten Bilder, die man sich ankucken konnte, und die ganz besonders interessant waren, wenn Gesichter mittendurch und Köpfe abgeschnitten worden waren, z.B. die von Tante Sirikit und Onkel Bhumipol. Aber das Papier verschmierte bloß, und saugte nicht gut. Ganz anders die ZEIT: wenig Bilder, viel Druckerschwärze und hohe Saugkraft. Ich lernte sie sehr bald schätzen.“

„Gut Freund wurde ich auch mit dem Schwein. Es roch genauso streng wie der Abtritt, wenn auch ganz anders. Ein bißchen roch es wie das frische Hefebrot meiner Großtante. Es hatte seinen eigenen Abtritt im Stroh. Oft stand ich auf dem Rand des Trogs und legte mein Kinn auf die Mauer und sah ihm zu. Es hatte Augen wie wir. Am Samstagnachmittag, bei frischem Hefebrot mit selbstgemachter Sommerwurst, fragte ich den Onkel, wie es kommt, daß Menschen solch ein nettes, wenn auch ein wenig eigenwillig riechendes Tier essen mögen.“

„Er habe den Menschen nicht gemacht, meinte der Onkel kauend, und er bezweifle, daß der Mensch etwa besser geworden wäre, wenn er, der Onkel, sich an ihm versucht haben würde. Er kriege es ja nicht einmal gebacken, einen neuen Abtritt zu bauen. Aber er gehe davon aus, daß der Mensch das Schwein ursprünglich einmal Hungers wegen gegessen habe. Mit der Zeit werde sich dann möglicherweise herausgestellt haben, daß Schwein besser schmecke als welker Sellerie. Insbesondere in der Form von Sommerwurst mit Hefebrot sei das Schwein unerreicht. Alle weitergehenden Überlegungen und Erwägungen, ökotrophologischer Natur etwa, erschienen ihm als nachrangig.“

„Und die Moral? wollte ich von meinem Onkel wissen (ich war damals fünf und voll in dem Alter, in dem man auf komplizierte Menschheitsfragen möglichst einfache Antworten haben will), und die Ethik? – Erst komme das Fressen, bestimmte der Onkel, und wenn er recht berichtet sei, sei das Fressen von Schweinen nicht der Gegenstand der Moralphilosophie, sondern das Töten. Das könne man zwar unterlassen, aber aufgeschoben sei nicht aufgehoben, dadurch hole man dem Tod seine Beute nicht vom Schinderkarren. Es werde alt, das Schwein, es welke hin, es breche sich den Oberschenkelhals, nicht anders als wir. Es werde dement. Es könne nicht mehr beißen, weil die Zähne ihm aus der Schnauze faulten. Es sehe nicht mehr gut, im rechten Auge mache der Star sich breit. Hinter den Ohren reiße das Fell. Die Zyste in der rechten Klaue habe der Tierarzt übersehen. Das Immunsystem werde schwach. Eine Bremse lege ihre Eier in seine Nasenschleimhäute, und die Maden fräßen sich in die Luftröhre. Es kriege schlecht Luft. Eines Tages stürze es, falle hin, komme nicht mehr hoch, grunze klagend, aber ungehört und liege dann im eigenen Kot, sehe sein Leben vor seinem inneren Auge, hinter dem Star, vorüberziehen, sehe sich noch einmal als das Ferkel, das neben und mit dem fürwitzigen Jagdhundwelpen aus dem gleichen Trog fraß, und es höre den Zug und sehe den Wind in den Pappeln am Bahndamm, und hinter den Pappeln werde es noch einmal rot wie Juniabend, und dann vertrockne es langsam, und das Schlucken tue so weh, und dann weiche das Licht und von den Rändern her schleiche Dunkelheit heran, und wenn es so komme, habe das Schwein sogar noch Glück gehabt. Pferden und Jagdhunden gebe man den Gnadenschuß, aber was mache man mit dem 8,7 Millionen Schweinen? 8,7 Millionen allein in Niedersachsen? Durchfüttern? Er werde es vielleicht noch hinkriegen, als Altenteiler auf einem einschweinigen Nebenerwerbshof mit reichlich Kartoffelschalen und Kohlstrünken, eine greise Sau zu füttern bis es nicht mehr gehen wolle, und ihr schließlich die Gnadenaxt vor die Stirn zu schlagen. Aber wenn er sich seinen Visionen hingebe, Visionen von Massenställen und industrieller Schweineaufzucht, industrieller Mast, industriellem Schlachten, industrieller Fleischveredelung, industrieller Schlachtabfallaufbereitung und industriellem Gammelfleischrecycling, dann rutsche ihm sein weiches Herz ins härene Beinkleid, dann graue ihm vor dem Tag, an dem die letzte Schlacht zwischen Gut (Veganer) und Böse (Allesfresser) zugunsten der Guten entschieden sei. Denn dann werde der innere Schweinehund des Menschen in lautes Geheul ausbrechen, und ein Morden werde anheben unter den Schweinen, welche dann nicht mehr zwar Freßkonkurrenz aber eben auch Kotelett, sondern nur noch Freßkonkurrenz sein würden, ein Morden unter Hühnern und Rindern, unter Puten und Lämmern, daß es einen Stein oder sogar einen Fleischterminhändler zu Tränen rühren möchte.“

Ob das hier wiedergegebene Gespräch so oder ähnlich jemals stattgefunden hat, ist nicht sicher. Einerseits: warum nicht? Andererseits muß man bei Manisch-Depressiven mit Allem rechnen. Die saugen sich ihre Großonkel gerne aus den Fingern.

Das Schwein, berichtet AnnaLena, habe mit dem Abtritt dahingemußt. Auch ihr Urgroßonkel sei nicht mehr. Aber was ihr Onkel Germanistenfuzzi sei, der schwöre Stein und Bein, daß ihn das unter dem Schlappohr hervorschauende Auge des Schweins bis heute nicht loslasse. Er habe ihm manchmal einen welken Sellerie aus dem Garten mitgebracht, und das Schwein habe den Sellerie gefressen. Es habe auch Dreck gefressen, wenn die Jahreszeit kein Gemüse habe hergegeben wollen, und der Onkel ihm ersatzweise eine handvoll Dreck aus dem Garten mitgebracht habe. Auch Spinnen habe es gefressen, die der damals Fünfjährige, voll frühkindlichen Forscherdrangs, ihm aus dem Abtritt geholt und in den Trog geworfen habe. Desgleichen Hefebrot, trotz des Geruchs. Sowie den Leinensack, in dem die Sommerwurst aufgehoben wurde. Leider habe der Onkel versäumt, einmal auszuprobieren, dem Schwein ein Blatt der Bunten, der Klugen Hausfrau oder der ZEIT zu fressen zu geben. Man könne es also nicht wissen, aber der Onkel habe ihr versichert, er hege keinen Zweifel daran, daß das Schwein auch eine ganze ZEIT würde gefressen haben.

Es sei ihm dieses Freßverhalten des Schweins immer als Symbol für irgendwas erschienen. Er habe nur vergessen, für was.

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