Der kybernetische Organismus, zur Hälfte Schriftstellerin und zur Hälfte halbgares Weißnichtwas, der im Dresdener Schauspielhaus eine Rede gehalten hat, in der er jene Kinder, die anders auf die Welt gekommen sind, als es bei ihm zuhause früher üblich war, als „Halblinge“ bezeichnet hat, zur Hälfte doch wieder zurückgenommen.
Halb zog es ihn, halb widerstand er. Widerstand Zeitungeist und Zeitungsgeist, dann aber unterlag seine bessere Hälfte, und er nahm den Satz von den Halbwesen, vor denen es ihn schüttele, zurück. Halb. Er sei „zu scharf“, der Satz. Nicht etwa zu falsch.
Die andere Hälfte aber will er lassen stahn.
Schon zuvor hatte er nur halb hinter dem Gesagten stehen mögen, denn er schwächte es während der Rede bereits ab:
„Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“
Man muß zugeben, daß die Vernunft es dem Abscheu bei vielen Leuten aber auch sehr leicht macht. Eine Vernunft, die sich sofort in die Büsche schlägt, wenn der Abscheu ihr entgegenkommt, eine solche Vernunft bettelt ja geradezu darum, daß der Abscheu demonstrativ eine Motorradkette aus der Lederjacke ziehen und sein Was-gucks-du-Gesicht aufsetzen möge. Insofern kann der, der nur eine solche halbe Portion als Vernunft abbekommen hat, rein gar nichts dafür. Und bei einem, der ein „Onanieverbot“ für „weise“ hält, muß man sich ohnehin fragen, ob das, was er da mitbekommen hat, überhaupt Vernunft ist oder irgendwas anderes, oder sagen wir mal zur Hälfte Vernunft und zur Hälfte Polyester. Denn so ein Onanieverbot ist ja allenfalls zur Hälfte weise, zu der Hälfte nämlich, die daraus besteht, daß es so schlecht durchzusetzen wäre. Man bedenke die notwendigen Kosten für Gefängnisneubauten – was sage ich: Zuchthäuser. Und Zuchthauspersonal. Denunzianten. Rechtsanwälte. Prozesse, Richter, Prozessberichterstattung, Arbeitsplätze! – Das ist die vernünftige Hälfte. Die andere Hälfte aber ist es doch der bare Unfug!
Und was soll das denn eigentlich heißen, es sei ungerecht, den Kindern etwas anzulasten, wofür sie rein gar nichts können? Soll das etwa heißen, daß wir es den Kindern nicht anlasten sollten? Das kann es doch wohl nicht heißen! Hat uns die Tatsache, daß die Kinder für irgendetwas rein gar nichts konnten, etwa davon abgehalten, es ihnen gleichwohl und doppelt und dreifach anzulasten? „Unehelich“ geboren zu sein, etwa? Achwas! Wenn es darum ging, Abscheu vor ledigen Müttern zu inszenieren, haben unsere Gottesmänner nie angestanden, auch das letzte Quentchen Vernunft im Nachthemd aus dem Pfarrhaus zu prügeln. Wenn sie sich dann, die Vernunft, in ihrer Not anderswo Obdach suchte, durfte sie sich, zum Schaden das Gespött, obendrein als Flittchen verunglimpfen lassen.
Es wird nun, seit der Rede des Cyborgs, in der Presse viel von Religion und Fundamentalismus gepredigt, was eine hübsche Gemeinheit ist, legt der Begriff des Fundamentalismus es doch nahe, daß das Fundament aller Religion die Nichtganzdichtigkeit sei, und je religiöser einer sei, desto näher sei er den Basics, und desto undichter also auch. Nun, es ist nicht von der Hand zu weisen, wir haben es mit einer Renaissance der Undichtigkeit zu tun; wenn man etwa Matussek und Schreibkraft Mosebach und Sibylle Lewitscharoff ein bißchen anhebt und nachsieht, warum es in ihrer Umgebung so feucht ist, dann sieht man, wie es aus ihnen heraustropft, sei es, daß es aus ihnen selbst kommt, sei es, daß sie schon so lange im Feuchten sitzen. Aber man darf das doch bitte nicht mit Religion verwechseln! Zum Mißverständnis beitragen mag das Gesicht von Sibylle Lewitscharoff, das so unerlöst aussieht wie jenes, an das Friedrich Nietzsche gedacht haben mag, als er seinen Aphorismus von den Christen, die ihm ein Ideechen erlöster aussehen dürften, wenn er an ihren Erlöser glauben sollte, in die Welt stemmte. Aber Nietzsche übersieht, bzw. übersah, und wir übersehen, daß es Christen nicht um die eigene Erlösung zu tun ist, sondern um die Verdammnis der anderen. Wer soll denn bitteschön ein erlöstes Gesicht machen, solange er nicht sicher sein kann, daß die anderen auch wirklich zuverlässig verdammt werden? Gott trauen die Christen in dieser Hinsicht nicht über den sprichwörtlich unergründlichen Weg. Da nehmen sie die Verdammnis doch lieber selbst in die Hand und sorgen dafür, daß sie auf Erden vorgenommen wird, und nicht eine ungewisse Option fürs Jenseits bleibt.
Religion, so könnte man sagen, ist nicht dafür da, daß man sein eigenes Leben gestalte, sei’s zum Guten, sei’s zum Bösen, sondern daß man sie dem Anderen um die Ohren haue. Das ist – natürlich – auch ein Aspekt der Gestaltung eigenen Lebens, aber eben nur einer. Und das eben ist es. Das stört die Undichten. Diese Pluralität. Dieses Postmoderne. Diese Vielfalt der Aspekte. Dieses gleichberechtigte Nebeneinander. Zwar haben auch in der Vormoderne Jude und Christ, Prolet und Bourgeois, Gerecht und Ungerecht sich von der gleichen Sonne bescheinen lassen, aber doch wenigstens nicht gleichberechtigt! Da gab es noch ein straffes Übereinander, ein Übereinanderher in der Welt, während in den Schädeln Wahr und Falsch, Vernunft und Abscheu, Adel und Unflat, Himmel und Hölle gleichberechtigt nebeneinander hausten. Dahin zurückzuwollen ist ja nicht „fundamentalistisch“, dahin zurückzuwollen heißt die Postmoderne negieren – der sicher keiner von uns eine Träne hinterherschmeißt -; dahin zurückzuwollen heißt auch, die Nichtgewesenheit der Moderne zu postulieren.
Ja bitte? Just das aber sei es, was man als Nichtganzdichtigkeit zu verstehen habe? – Schön, dann habe ich mich halt geirrt. Dann nehme ich den Satz eben zurück. Kost mich ja nix. Halb nehme ich ihn zurück. Er war zu falsch, der Satz. Nicht etwa, daß er nicht gut geklungen hätte.
Apropos Religion: es geht die Sage von einem, gut 2000 Jahre ist es her, daß er geboren wurde, bei dessen Zeugung auch nicht alles koscher und schon gar nicht kopulativ zugegangen sein soll. Ein Halbwesen, zur Hälfte wahrer Mensch, zur Hälfte wahrer Weißgottwas. War den Leuten seiner Zeit sehr suspekt, damals. Ist aber eine ganz große Sache geworden, ganz große Sache. Großer Sprücheklopfer auch, die Überschrift zum Beispiel stammt von ihm. Es war über Jahrhunderte hin nicht zu empfehlen, etwa Abscheu vor so einem zu äußern. Kam nicht gut an. Wurde sanktioniert. Wird heute nicht mehr so eng gesehen, ist aber immer noch eine große Sache. Wenn man dessen Geburtstag nicht so groß feiern würde, könnte der halbe Einzelhandel dichtmachen. Ist übrigens eine gute Gelegenheit, einem Menschen, den man nicht leiden kann, ein Buch von Sibylle Lewitscharoff auf den Gabentisch zu legen. Denn ähnlich wie beim Glauben kommt es beim Schenken ja nicht darauf an, daß man sich selbst etwas Gutes tut, sondern daß der andere sich mies fühlt.
Dazu reicht wahrscheinlich auch ein halbes Buch.