Offener Brief

an den lieben Gott
im Himmel über Bückeburg

Lieber Gott,

eigentlich wollte ich mit diesem Brief gar nicht Dich behelligen, sondern ich wollte an den Obermotz der Lokführer geschrieben haben, dem ich vorschlagen wollte, sich von mir die Füße über offenem Feuer rösten, und mich zuschauen zu lassen zu lassen, wie das Fett aus seinen Fußsohlen tritt. Mit „Hallo Weselsky, alter Spasti!“ hätte ich, wäre es zu dem Brief gekommen, ihn wahrscheinlich nicht angeredet, obwohl ich mir das ursprünglich so ausgedacht hatte, denn mir war noch rechtzeitig eingefallen, daß ich mich dadurch des höllischen Feuers schuldig machen würde, weil es ja heißt: „Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Spasti! der ist eines höllischen Feuerchens schuldig. – Dochdoch, Matthäus 5, Vers 22b. – Außerdem kenne ich ein, zwei handvoll spastisch gelähmter Mitbürger, die mir sympathisch sind, bzw. die mir sympathisch waren, als Du sie noch nicht zu Dir gerufen hattest, und deren Andenken will ich nicht in den Staub gezogen wissen und ihnen diesen Vergleich ersparen. Und dann wäre es ja auch nur eine mäßig intelligente Retourkutsche gewesen, Weselsky mit einem Behindertenvergleich auf die Pelle zu rücken, viel besser ist es, ihn auf der kleinen Flamme seines eigenen Behindertenvergleichs zu rösten.

Obwohl mir die Retourkutsche als solche durchaus ein angenehmes Gefährt ist. – Apropos!

Apropos retour und apropos Kutsche! Es ist ja nicht so, daß ich auf Streiks grundsätzlich mit Unmut reagieren würde. Lufthansa-Piloten, beispielsweise. – Die wollen streiken? – Gott befohlen! – O pardon, nicht so gemeint! – Ich fliege nicht, wenn ich nicht dazu gezwungen werde, und mit etwas, das sich German Wings nennt, schon gar nicht. Ich glaube nicht, daß etwas, das sich German Wings nennt, etwas Seriöses sein kann. Eher schon ist etwas, das sich Back-Factory nennt, etwas Seriöses. Aber ich glaube nicht, daß es etwas Seriöses ist. Ich assoziiere bei dem Silbenpaar ‚Back-Fac‘ immer Butt-Fuck, denk von mir, was Du willst! Mir geht es diesbezüglich wie dem Patienten im Rorschach-Test: wer hat denn den Schweinkram gemalt – er doch nicht! Jedenfalls, eine Butt-Fucktory ist ja wohl nichts Seriöses. Jedenfalls kaufe ich dort nichts. – Auch Weselsky würde meinen Unmut nicht weiter auf sich gezogen haben, hätten seine Krieger mich nicht heute Punkt 18 Uhr 4 aus dem Zug geworfen, und zwar in Bückeburg! Dem Zug, der mich – so war die Absprache – zurück nachhause hätte bringen sollen und müssen!

Warst Du, lieber Gott, schon einmal in Bückeburg? Nach 18 Uhr? – Ich auch nicht, bis heute. Heute war ich da. Und ich hege nicht den Wunsch, die Erfahrung in absehbarer Zeit zu wiederholen. D.h., als ich durch die verlassenen Straßen strolchte, fiel mir ein, daß ich die Erfahrung vor etlicher Zeit schon einmal gemacht hatte. Damals gab es in der Stalinalle noch ein kleines Bistro, in dem es Cocktails gab; aber gerade, als meine müden Schritte, die sich ihrer besser zu erinnern schienen, als ich selbst, mich Richtung Eingang trugen, hing in den leeren Fenstern ein Wisch des Inhalts, daß die Lokalität zu vermieten sei.

Lieber Gott, entspricht es Deinem Wunsch, daß der Inhalt eines ganzen IC-Zuges in Bückeburg auf die hochgeklappten Bürgersteige gekippt wird? Und man dort gottverlassen übers Pflaster tolpatscht, mit nichts zum Anhören im Kopfhörer außer einem Rucksack voller Wolf Biermann-Schallplatten – ‚O Gott, laß du den Kommunismus siegen!‘? ‚Man‘ ist vielleicht nicht richtig, ‚ich‘. Man hätte natürlich auch im Zug bleiben können, der um 21 Uhr weiterfahren sollte. Aber der Wagen 11 wurde ebenfalls bestreikt, wie auch die Fahrkartenkontrolle, weswegen man sich ohne weiteres in die 1. Klasse hätte setzen können, in der das Internet aber auch nicht funktionierte; ich hab’s ausprobiert. Man gerade, daß es das Handy noch tat, so daß ich zuhause anrufen konnte. Großer Jubel im Hintergrund: der Alte verspätet sich auf unbestimmte Zeit. Sie tun immer so, als ob sie auflegten, damit ich hören kann, was sie hinter meinem Rücken über mich sagen. Aber ich will nicht motzen – was sollst Du erst sagen, der Du Alles mit anhören mußt, ogottogottogott! – Um Vergebung! Soll nicht wieder vorkommen.

Also stieg ich aus, und der Zugbegleiter, der mich stark an jemanden erinnerte, den ich einmal im Garten unter dem umgekippten Hackklotz fand. So ein graues, käferartiges Tier mit vielen Beinchen. Ich will nicht sagen, daß er viele Beine gehabt oder sonst so ähnlich ausgesehen hätte, aber ich betrachtete ihn mit der gleichen Abneigung. Er hätte die Schaffnerin sein können, die aussieht wie Sibylle Berg, ich würde auch sie mißvergnügt angesehen haben. Vielleicht tue ich das ja sowieso, ich weiß es nicht. Man sieht sich selbst ja leider nie so an, wie man die anderen ansieht. Mit Abneigung, aber auch Faszination, wie diesen Schaffner, der breite Arme hatte und die große Geste beherrschte. Das sei alles nicht so geplant gewesen, sagte er und herrschte dabei über die Geste, daß es eine Art hatte, aber der Mensch könne nun mal nicht in die Zukunft schauen. Geplant gewesen sei es, uns bis nach Minden zu kutschieren und dort auf den Bahnsteig zu kippen. Der Bahnhof Minden sei aber bereits voll, und nun müßten wir, das heißt sie, die Streikenden, 3 öde Stunden in Bückeburg verbringen, denn um 21 Uhr gehe es ja weiter. Wir Fahrgäste hingegen könnten uns alle ein Taxi nehmen, uns nach Köln oder Amsterdam oder was immer unser Ziel sei, bringen lassen, und die Kosten der Deutschen Bahn in Rechnung stellen. Tatsächlich krabbelten viele der Fahrgäste in Taxis, deren Fahrer überhaupt nicht wußten, wie ihnen geschah. Das letzte Mal, daß in Bückeburg am Bahnhof ein Gast nach 18 Uhr ein Taxi bestieg, muß nach meiner Schätzung im Mai gewesen sein sein. Ich jedoch befragte erst einmal das Internet, mit dem Ergebnis, daß der Bus, den ich hätte kriegen können, weg war, als ich mit dem Internet fertig war. Das hätte ich übrigens vorhersagen können, denn das ist immer so. Und daß der nächste Bus erst um 19 Uhr 06 gehen würde, hätte ich auch verhersagen können, denn das ist auch immer so.

Immerhin hatte ich jetzt genug Zeit, zu Fuß in die Stadt zu marschieren. Nicht durch die Stalinallee, übrigens, sondern durch die Braustraße. Durch die kommt man, wenn man vom Bahnhof zur Stadtkirche will, wo der Bus abfährt. Ich muß schon sagen, lieber Gott, sie bauen Dir anderswo schönere Häuser, als diese Stadtkirche. Z.B. so kleine knuffige Feldsteinkirchen, mit Gottesacker umzu und Wacholder auf dem Acker. Schön. Ich hab es nur aus den Augenwinkeln gesehen und weiß auch nicht, in welchem Dorf es war, denn im Bus, das will ich doch mal festhalten, ging das Internet wieder. Dabei hat der Bus nicht einmal eine 1. Klasse. Ich glaube, sie machen es mit Fleiß, daß das Internet im Zug nicht funktioniert, damit der Fahrgast sich nicht informieren kann, was sie mit ihm vorhaben. Glaubst Du, ich wäre in Hannover in den Zug gestiegen, wenn ich hätte vorhersagen können, daß er in Bückeburg stranden wird? Das wirst Du nicht glauben. Wäre ich nämlich nicht. Und wenn ich ein kleines Bistro in der Stalinalle wäre, hätte ich auch dichtgemacht und wäre abgehauen. Oder Braustraße, von mir aus auch Braustraße. Ich komme auf ‚Stalinallee‘ auch nur wegen Biermann: „Die DDR, auf Dauer / Braucht weder Knast noch Mauer / wir bringen es so weit! / Zu uns fliehn dann in Massen / Die Menschen, und gelassen / sind wir drauf vorbereit‘.“

Mann kann Biermann nicht vorwerfen, daß er damals Blödsinn sang. Wir Menschen können nun mal die Zukunft nicht vorhersagen. Könnten wir es, wäre ich nicht in Bückeburg gelandet, und Biermann hätte nicht so einen Unsinn gesungen. Dereinst, wenn ich nicht mehr nur erkannt bin, sondern erkennen werde, wie es Dein Knecht Paul vorhergesagt hat, dann hätte ich gern Erkenntnis darüber, warum die Menschen es trotzdem immer wieder tun, und je mehr sie wissen sollten, daß es nicht geht, es aber desto zu können glauben. – Bene. Ich werde warten. Bezüglich der DDR und des Kommunismus‘ hast Du also anders beschlossen. Das habe ich in Demut hingenommen. Aber ist dieser Streik nun in Deinem Sinn? Ein Fahrgast am Bahnhof, der den Asselschaffner frontal angegangen war, hatte nämlich gesagt, die Schaffnerassel solle nicht so einen Blödsinn daherreden, Streik sei höhere Gewalt, die Deutsche Bahn werde den Teufel tun und uns die Taxifahrt ersetzen. Da dachte ich, Moment mal – höhere Gewalt? Solltest Du Deine Finger im Spiel haben, lieber Gott? Und Weselsky wäre Dein Knecht? – Ich werde auch das in Demut hinnehmen, aber kann ich ihn trotzdem haben, um ihm die Füße überm offenen Feuer zu rösten, bis das Fett aus seinen Fußsohlen trieft? Keine Angst, ich werde ihm nichts tun. Anschließend laß ich ihn wieder laufen, wenn er dann noch laufen mag. Natürlich nur, wenn es Dein Wille ist. Ich werde auch das in Demut hinnehmen.

In Bückeburg haben sie kein Geld für schöne Gotteshäuser, da geht alles für den Fürscht und sein Mausoleum drauf. Die Fassade der Kirche sieht aus, als wäre sie ein Stück von diesem und bloß aus Versehen in die Stadt versprengt. Ist sie auch, denn statt ‚Gloria in excelsis deo‘ oder ‚Lasciate ogni speranza, voi che abitate qui‘ hat er SEinen Namen in der Fassade verewigen lassen: Exemplum Religionis Non STructuraeErnst. Fürscht Ernscht. – Nicht einmal dem Konsum errichten sie dort anständige Tempel – ’nahkauf‘! Du lieber Gott! – Oh! Sorry! Ist mir so rausgerutscht. – Da hab ich auch das letzte Mal eingekauft. Was ein Name! Da kauf ich ja noch lieber bei der Back-Factory. Zwei Kunden, eine Kassiererin. Ansonsten Leere. Schräg gegenüber der Kirche, dem angeblichen Zentrum der Stadt. Gott sei Dank – entschuldige bitte, war keine Absicht – kam dann bald der Bus. Der Bus nach wo? Nach irgendwo. Nach Butt Fuck Nowhere, von mir aus. Etwas Besseres als einen ’nahkauf‘, finde ich schließlich überall.

Eigentlich, so überlegte ich im Bus, wenn mir der Fahrer Muße dazu ließ, denn er fuhr wie die mehrfach gesengte Sau, und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, zu vermeiden, daß mir das Internet aus denselben glitt, oder ich vom Sitz, eigentlich hatte ich ja Glück gehabt, indem mir Biermann, Bahnstreik und Bückeburg an einem Tag passiert waren. Mit den dreien hätte man sich ja auch locker zwei, wenn nicht drei Tage versauen können. Für die nächste Zeit, beschloß ich, würde ich erst einmal dafür sorgen, was Anständiges im Kopfhörer bei mir zu tragen, vielleicht ein paar beethovensche Klaviersonaten oder Sinfonien, irgendeinen Nervenbalsam, denn wer weiß, wo die Bahn mich noch überall rauswirft – in Peine? Pattensen? Paris? – Außerdem würde ich mich zuguterletzt gerne bei den Bückeburgern entschuldigen, sie können ja eigentlich nichts dafür! So ein schönes Städtchen! So ein schönes Hubschraubermuseum, das gottlob – nichts für ungut – einzige in Deutschland! Das einzige, was Bückeburg zu fehlen scheint, ist ein kleines Bistro, in dem der gestrandete Bahnkunde etwas Erfrischung fände.

Schuld aber sind Biermann und die Gewerkschaft der Lokführer.

Lieber Gott, wenn Du es Dir eines Tages anders überlegen solltest, und der Kommunismus siegt doch noch, und wir alle sind unserer Ketten ledig und können, jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen, unseren nicht entfremdeten Tätigkeiten nachgehen, dann könntest Du mir einen großen Gefallen tun, indem Du dafür sorgtest, daß die Deutsche Bahn nach wie vor privatwirtschaftlich organisiert wäre, und das Zugpersonal müßte in prekären Arbeitsverhältnissen ausharren, würde gedeckelt, entlassen, in Beschäftigungsgesellschaften ausgegliedert und zurückgeleast, durch Billiglohnkräfte unter Druck gesetzt, kriegte das Weihnachtsgeld gestrichen, stöhnte unter Leistungsverdichtung, schöbe einen Überstundenberg vor sich her, kriegte das Rentenalter heraufgesetzt, hätte widerliche Vorgesetzte, müßte zusehen, wie die Kapitalseite sich der Fettlebe hingibt, und dringend notwendige Investitionen würden auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer immer wieder zurückgestellt. Das ist nicht nett von mir, das weiß ich wohl, und vielleicht ist es morgen auch wieder vorbei, aber heute würde mir das gut gefallen.

Gegen Biermann brauchst Du nichts zu unternehmen; der wäre gestraft genug, wenn sein Stoßgebet von 1968 doch noch erhört würde.

‚So soll es sein, so soll es sein, so wird es sein‘. – Amen.

Radagast

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