I needed you but you didn’t need me
Es sei nicht so sehr „kritische Zeugenschaft“ gewesen, nicht Journalistenethos, nicht die Freude an der Chronistenpflicht und nicht die Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Auftrag, das Gewesene der Nachwelt zu überliefern, sondern vielmehr die reine, unverstellte Pöbelhaftigkeit des Pöbels, die ihn an Ort und Stelle festgehalten hätte, schrieb Robert Gernhardt so oder ähnlich unter dem Titel „Des Pöbels Kern“ in der Titanic – damals, als der Pöbel, wie es sich gehört, draußen vor der Frankfurter Oper sein Wesen trieb, und noch nicht, wie heute leider üblich, in der Oper. Irgendeine Dumpfbacke hatte sich damals ausgedacht, in der wiederaufgebauten Frankfurter Oper einen Opernball stattfinden zu lassen, als wär’s nicht Frankfurt, sondern Wien, und als schriebe man noch das Jahr 1815 und nicht 1982.
Es habe sich bei dem Ball um eine bewußte Provokation gehandelt, sagte die Dumpfbacke 20 Jahre danach, zwar keine Provokation um der Provokation willen, aber der Pöbel habe es so aufgefaßt und entsprechend reagiert. Gottseidank. Man würde Gernhardts Text nicht gerne missen. – Später im selben Jahr dann – der Verräter Genscher machte es möglich – zog jener Mann ins Kanzleramt, den wir damals alle unterschätzten – leider unterschätzten, muß man sagen, obwohl wir halb und halb entschuldigt sind: wußten wir denn, was wir an Kohl hatten? Wußten wir, wer dereinst auf ihn folgen sollte? Schröderächz und Merkelstöhn? – Wir wußten es nicht, wir konnten es nicht wissen. Und schon gar nichts wußten wir von der reinen, unverstellten Flegelhaftigkeit dieses Flegels, von der wir erst jetzt, 30 Jahr später – der Frankfurter Opernball ist ein Wrack, und Kohl sieht auch nicht mehr gesund aus – erfahren dürfen, und die uns mit reiner, unverstellter Schadenfreude erfüllt: kann ein Mann, der einen Friedrich Merz ein „politisches Kleinkind“ nennt, einen Christian Wulff eine „Null“, kann ein solcher Mann ein ganz schlechter Mensch sein?
Er kann es nicht.
Apropos ‚kann es nicht‚:
Sie wettern gegen „journalistische Grabräuberei“: Die Allianz der Helmut-Kohl-Verteidiger ist so breit wie bunt. Klar springt die „Bild“ dem Altkanzler bei. Aber auch die „Süddeutsche“ und gar die „taz“… Was ist denn da los?
Da kann es einer nicht fassen.
Aber stimmt es denn auch, was er sagt? Eigentlich verteidigen die Leute doch gar nicht den Kohl, sondern sie rupfen den Schwan. Aber – und bei der Gelegenheit, weil oben von Journalistenethos die Rede war – wer fällt uns ein, wenn wir uns die vollkommene Abwesenheit von Ethos, Pflichtbewußtsein und Gewissen vorzustellen versuchen? Wer? – Na er.
Wer hätte gedacht, dass Helmut Kohl unter deutschen Journalisten einmal so viel Sympathie genießen würde. Seit man lesen kann, was sein ehemaliger Ghostwriter an Boshaftigkeiten auf Band aufgenommen hat, reißt die Kette derjenigen nicht ab, die finden, dass dem Altkanzler großes Unrecht geschieht, wenn nun alle Welt erfährt, wie er über andere Politiker denkt und dachte. Von „journalistischer Grabräuberei“ ist die Rede und davon, dass der Presse durch solche Indiskretionen insgesamt Schaden entstehe, weil sich niemand mehr auf den Schutz des vertraulichen Wortes verlassen könne.
Es ist zweifellos ein Geheimnisverrat ersten Ranges, wenn man das, was einem im guten Glauben gesagt wurde, später unter die Leute bringt, um einen Bestseller zu landen. Aber dass ausgerechnet Journalisten diesen Umstand beklagen, ist doch einigermaßen verblüffend. Wenn es eine Branche gibt, die davon lebt, dass Leute Dinge ausplaudern, die sie eigentlich für sich behalten sollten, dann das Mediengewerbe.
Warum verblüfft es denn? Weil man nicht denken sollte, daß ein Journalist so weit denken kann? Sich nämlich auszurechnen – zwei Finger und noch mal zwei Finger macht zusammen vier Finger -, daß er in Zukunft wohl weniger vertrauliche Informationen zugesteckt bekommen dürfte, wenn er jeweils dazuschreibt, von wem er sie hat? – Nun, ich muß das Wort eines Journalisten gelten lassen. Wenn der es für verblüffend hält, wird er seine Gründe dafür haben. Ich bin ja keiner, weswegen ich auch nicht wissen kann, ob es bei denen vielleicht tatsächlich so ist, daß sie die meiste Sympathie für jene Leute haben, denen großes Unrecht geschehen ist. Kann ja sein. Glaube ich zwar nicht, aber wer bin ich schon? Ich allerdings habe Sympathie für Kohl, aber nicht deswegen, weil ihm so großes Unrecht widerführe, sondern desto mehr, je flegelhafter er über Merkel herzieht: „konnte nicht mit Messer und Gabel essen“! Herrlich!
Womit er Merkel vermutlich großes Unrecht tut. Aber macht sie das etwa sympathischer? – Nö.
Wer in solchen historischen Dimensionen angekommen ist wie Kohl, kann nur noch bedingt darauf vertrauen, dass das, was er privat äußert, auch privat bleibt. Die Äußerungen eines Staatsmanns seiner Größe sind immer von Belang, selbst wenn es sich um abfällige Bemerkungen handelt. Aus gutem Grund ist schon Richard Nixon mit dem Versuch gescheitert, die Mitschnitte von seinen Gesprächen im Weißen Haus sperren zu lassen. Von den „Nixon-Tapes“ und den auf ihnen überlieferten Ausfällen zehren die Historiker noch heute.
Ich weiß nicht, in welchen Dimensionen Kohl angekommen ist und ich weiß auch nicht, was historische Dimensionen sein sollen. Aber es genügt, meiner Meinung nach, daß einer im Bundeskanzleramt angekommen ist, um sicher zu sein, daß das, was er sagt, privat oder nicht privat, nicht privat bleiben wird. Ob es von Belang ist, was er sagt, was immer er sagt, sei dahingestellt. Wenn er zum Beispiel ruft, das Klopapier sei alle, und Frau Weber solle mal eine Rolle aus dem Kanzleramtsbesenschrank holen und ihm bringen und durch die Tür reichen. Glaube ich zwar nicht, daß das von Belang ist – außer für Frau Weber, die bestimmt gut daran getan hat, zu parieren, und zwar pronto -, aber ich bin sicher, daß es in den Archiven der Staatssicherheit gelandet ist. Von wannen es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages ans Licht der Sonne kommen wird, wenn Kohl lange genug tot und bei mir die altersbedingte Makuladegeneration noch nicht allzuweit fortgeschritten sein wird.
Eine Machtmaschine, die alles niederwalzte
Noch überraschender als die Argumente, die bemüht werden, um den Vertrauensbruch zu geißeln, ist die Allianz, die sich zum Schutze des Altkanzlers zusammengefunden hat. Dass Kai Diekmann von der „Bild“ sich für den greisen Kanzler in die Bresche wirft, verstehe ich. Das Verhältnis der beiden ging immer über das Journalistische hinaus. Kohl hat in Diekmann eine Art Ziehsohn gesehen, der „Bild“-Chefredakteur war einer der beiden Trauzeugen bei seiner zweiten Heirat.
Da die Argumente der Vertrauensbruchgeißler nicht überraschend sind, sondern rational, ist es nicht überraschend, daß „die Allianz, die sich zum Schutze des Altkanzlers zusammengefunden hat“ „noch überraschender“ ist. Ein ganz winzig kleines bißchen überraschend ist ja schon überraschender als nicht überraschend, und zwar um ein Vielfaches, ja Unendliches. Aber ist die Allianz überhaupt überraschend? Kann sie es sein? Ist es nicht in Wahrheit ihre Existenz, die uns überrascht, und nicht die Allianz als solche? Aber existiert sie überhaupt? Hatte ich nicht oben geschrieben, daß es nicht um die Verteidigung Kohls geht, sondern um die Verteidigung journalistischer Grundsätze und Gepflogenheiten, und zwar aus handfestem Eigeninteresse? Kann mal einer nachsehen, ob es weiter oben schon steht? Sonst schreibe ich es sicherheitshalber noch einmal hin. Und, ja: die Existenz einer Allianz, die nicht existiert, die wäre in der Tat überraschend.
Daß es einer verstehen kann, wenn Kai Diekmann, der Urinoberkellner der Pißpottpresse, dann, wenn es um seinen Buddy Kohl geht, plötzlich journalistisches Ethos entwickelt und Grundsätze einfordert, die er im Falle des Verräters Wulff, der Null, noch durch die Twitterspülung hat rauschen lassen, kann ich verstehen, denn das kann ich auch verstehen. Was ich nicht verstehe, ist, wie einer dasselbe der Kollegin von der Taz nicht zugestehen kann:
Aber ich hätte nie erwartet, auch aufrechte Kohl-Verächter wie Heribert Prantl oder die strenge „taz“-Vorsteherin Ines Pohl unter den Verteidigern zu finden. Keine Ahnung, was die Kollegen zu ihrem Einsatz treibt. Vielleicht hoffen sie bei der Gelegenheit, in einer Art Last-Minute-Bekehrung doch noch auf die richtige Seite der Geschichte zu kommen.
Es sei denn, er sei tief in seiner Mördergrube genauso ein Flegel wie Kohl, der es ja an der Oberfläche nicht war! An der Oberfläche war Kohl ein dicker, birnenförmiger Trampel, ein in jeder Hinsicht unfähiger und mithin mit der Aufgabe, die Geschicke des Landes in den Händen zu halten, überforderter Unfall der Geschichte. An der Oberfläche! Innen drin war er ein intrigantes Schwein – pardon, nein! Da bringe ich zwei Sachen durcheinander. Ein intrigantes Schwein war Jürgen Möllemann, Kohls Stellvertreter und, im Kabinett Kohl III, Minister für Bildung und Wissenschaft, im Kabinett Kohl IV Minister für Günstlingswirtschaft und Einkaufswagenchips, und zwar war der es in den Augen und mit den Worten seiner Parteifreundin Irmgard Adam-Schwaetzer: „Du intrigantes Schwein!“ Ach, es ist doch schade um die FDP!
Innen drin aber war Kohl, wie sich nun zeigt, ein Flegel. – Auch Fleischhauer, heißt es, sei sehr bedacht auf sein Äußeres. Warum?
Bei keinem Bundeskanzler lagen große Teile der Presse so daneben wie in der Beurteilung des Mannes, der Deutschland so lange regiert hat wie niemand sonst. Für die Linke und damit die tonangebende Meinungsmacht war er der Dicke, die Birne, der Trampel, ein in jeder Hinsicht unfähiger und überforderter Mensch, die Geschicke des Landes in den Händen zu halten. Als er 1982 an die Regierung kam, hielt man das für einen Unfall der Geschichte, den schon die nächste Wahl korrigieren würde. Als er ein ums andere Mal im Amt bestätigt wurde, war er die Machtmaschine, die alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte.
Moment mal, das ist doch von mir! Birne, Trampel, dick, in jeder Hinsicht unfähig, Unfall der Geschichte – eben habe ich es doch noch selber hingeschrieben! Das hat er von mir, aber richtig abschreiben kann er nicht, wie der verunfallte Satz von dem überforderten Menschen zeigt. – Nun ja! Wir Linken sind halt eine, nein, „die tonangebende Meinungsmacht“! Das muß auch ein Fleischhauer anerkennen. An uns kommt nicht vorbei, wer über Kohl schreiben will. Krawattericht! Schlipsgeradezieh!
Wenn es gegen Kohl ging, stand in vorderster Front natürlich auch immer der SPIEGEL.
Der SPIEGEL? Der SPIEGEL links? – Na gut, wenn es der Wahrheitsfindung dient. – Aber – wo wir gerade von Linken reden – nicht vergessen sei auch der linke Franz Josef Strauß mit seinem Rap: „Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“ Und nicht der Marxist Eberhard von Brauchitsch, persönlich haftender Gesellschafter des Kombinats VEB Flick, der das „Führungspotential Kohl“ seinerzeit bündig mit „Kein anderer da“ beschrieb.
Was die Kohlverachtung angeht, konnte es keiner mit den Kollegen aufnehmen, die dort in den Achtziger- und Neunzigerjahren für die politische Berichterstattung verantwortlich waren. Kohl selbst hat sich ebenfalls nicht lumpen lassen, muss man sagen. Legendär, wie er SPIEGEL-TV-Redakteure abfertigte, die ihn auf dem Weg zu seinem Wagen um einen Kommentar baten. Bei SPIEGEL TV haben sie aus den kurzen Auftritten zu seinem 80. Geburtstag einen eigenen Film geschnitten, den man sich immer wieder mit großem Genuss anschaut.
Ich wüßte es ja wohl! – Was ich gerne tun will, ist, die Schwan-Interviews immer wieder lesen. Ich hoffe nur, sie werden nicht langweilig. Weil – ich möchte nicht an meinem frisch gewonnenen Idol rummäkeln, aber – die Formulierungen, sind sie nicht alle ein wenig eindimensional? Authentisch, gewiß, unverstellt, geradeheraus, unplugged – aber auch ein Weniges mehr an Virtuosität vertragen könnend? Wer würde sich nicht, nach 36 Stunden Joe Cocker, etwas akustische Abwechslung herbeisehnen? Nicht sechsunddreißig Stunden, nach einer Viertelstunde, wollte ich sagen. Fünf Minuten. Und Joe Cocker ist auch viel zu hoch gegriffen – Bill Haley kommt eher hin. Nehmen wir nur die Äußerung Kohls über Rüttgers: „Dem sein Horizont ist Pulheim“. – Brav! – Aber wäre es nicht sehr viel schöner, angemessener und präziser, zu sagen: „Dem sein Horizont ist der Erbsensuppentellerrand auf der Wachstuchküchentischdecke in seinem Haus in Pulheim-Sinthern, Am Brauweiler Pfädchen oder wo er da wohnt“?
In der Politik resultieren die größten Fehler aus Eitelkeit
Hör ick dir schon trapsen, Nachtigall? Oder verbuche ich diese Zwischenüberschrift noch unter „Dummes Zeug, gedankenlos dahergeplappert“? Wieso wohl resultieren aus der Eitelkeit die größten Fehler? Die meisten, gut. Einverstanden. Aber war Kohls Fehler – denn darauf läuft es doch hinaus -, dem Schwan ins Ohr zu blasen und zwar so, wie ihm der Schnabel gewachsen war, war der denn überhaupt so groß? War es überhaupt ein Fehler?
Was viele Kritiker übersahen, wenn sie sich über Kohl lustig machten, war die Tatsache, dass er das Land viel eher verkörperte als sie in ihren Redaktionsetagen. Deshalb gewann er ja auch wider Erwarten eine Wahl nach der anderen.
Da Kohl aber, wenn er zur Wahl antrat, nicht gegen die Kritiker in den Redaktionsetagen antrat, sondern gegen Vogel, Rau, Lafontaine und Scharping, könnte man, wenn man bei Groschen wäre, allenfalls fragen, ob er volksnäher war als diese. Und nicht als jene. Und die Antwort müßte lauten: natürlich war er es. Wie man schon daran sieht, daß er gegen sie gewann. Und dann, als er gegen die Currywurst Schröder antreten mußte, die so volksnah war wie ein Skatabend im Plümecke, prompt verlor.
Was seine Beobachter als Bräsigkeit herabwürdigten, erschien dem Wahlvolk als Ausweis von Bodenständigkeit. Wo sie entsetzt den Kopf schüttelten, wenn er irgendwelchen Protestlern, die wild gegen ihn herumtobten, zurief, sie würden wohl alles bestreiten, nur nicht ihren Lebensunterhalt, lachten die meisten Deutschen zustimmend.
Ach du meine Nase! Kohl, der große Wortspieler. Kohl, der Kanzler, Kohl, der König, Kohl, der Höllenfürst des Wortspiels! Was red‘ ich denn, Kohl, der Richling, Kohl, der Urban Priol, Kohl, der Dietrich Kittner unter den Kanzlern! Hölle, Hölle, Hölle! Gott, ist mir schlecht! Klar, wenn einer anderer Meinung ist als ich, und wenn er diese äußert, ohne Rücksicht darauf, ob ich das möchte und was ich davon halte, dann kann der keinen geregelten Lebensunterhalt haben. Dann ist der nur ein unnützer Fresser. Das ist so. Da hatte Kohl schon recht, wenn es das war, was er meinte. Ich werde nachher vielleicht ebenfalls einen, den ich nicht leiden kann, einen unnützen Fresser nennen, ich weiß auch schon wen. Mal sehen. Bleiben Sie dran! – Aber war es das denn, was Kohl meinte? Ging es ihm nicht eher darum, bestimmte Ausdrucksformen linker Meinungsmacht – nennen wir sie Demokratie, nennen wir sie Meinungsfreiheit – zu delegitimieren? So à la „Meinungsfreiheit ist zunächst einmal für Erwachsene da, nicht wahr, und zwar für fleißige, steuerzahlende Erwachsene, die gar keine Zeit haben, eine eigene Meinung zu entwickeln. Zu Dingen zumal, die sie nichts angehen. Und die sie nicht verstehen. Wer von unseren braven Steuerzahlern kriegt schon mit, wenn in Frankfurt ein alte Ruine wieder aufgepäppelt wird? Damit dort Dumpfbacken einen Opernball für Nichtstuer mit Geld inszenieren können? Wer das auch nur zur Kenntnis nimmt, hat zuviel Zeit. Wer zuviel Zeit hat, arbeitet zuwenig. Es sei denn, er hätte Geld. Aber dann wäre er in der Oper und nicht vor der Oper. Will sagen: erst, wenn die fleißigen Bürger mit Meinungsfreiheit versorgt sind (durch Glotze und Pißpottpresse), erst dann und wenn dann noch etwas Meinungsfreiheit übrig sein sollte, dann soll man die den Armen geben. Sofern die es verdient haben. Nicht jedoch dem Pöbel.“?
Die Achillesferse der linken Intelligenz war schon immer ihre Volksferne, weshalb auch nur dort Populismus ein Schimpfwort ist – das hat niemand besser erkannt gehabt als Kohl.
Ok, es ist nicht die Nachtigall, es ist „Dummes Zeug, gedankenlos dahergeplappert.“ Lassen wir mal die quatschige Metapher von der Achillesferse beiseite – kann man sich das vorstellen? Wie ein geeigneter Apollon – wer könnte das denn mal sein? Irgendwelche Vorschläge? – seinen Pfeil aus dem Hinterhalt in die Volksferne der linken Intelligenz schießt, daß ihr ein Schmerz bis ans Herz fährt, und sie unter Klagen den Pfeil aus der Wunde reißt, und schwarzes Blut in den Staub der Walstatt quillt, so daß die linke Intelligenz kochend vor Kampfeslust unter die Feinde fährt und ihrer viele des Lebens beraubt, ehe ihr die Glieder kalt werden und sie sich auf die Lanze stützen muß, nicht ohne den Feinden zu fluchen – das kann sich doch kein Mensch vorstellen! Ich wüßte noch nicht einmal, welche Farbe das Blut der linken Intelligenz hat. – Rot? – Naheliegend. Aber warum nicht blau? Ich bitte! Als Geistesadel? – Lassen wir die Metapher, wie gesagt, beiseite, was will man erwarten von einem Transferleistungsempfänger, der seinen gesamten Rhetorikhaushalt von 391 Euro im Monat bestreiten muß? Hin und wieder vielleicht abgerundet durch ein paar Altmetaphern, die er aus dem Abfallkübel klaubt. 399 Euro soll es ab dem ersten Januar geben, aber große Sprünge wird er auch damit nicht machen können.
Aber lassen wir das. Nur dies noch: hier hätte sich – hier hätte es gepaßt – der „größte Fehler“ angeboten. „Der größte Fehler der linken Intelligenz war schon immer“ usw. usw. Das hätte zwar auch nicht gestimmt, aber das wäre immerhin von Sinn beseelt gewesen. Einer der Fehler des Fleischhauer hingegen, nicht der größte, nicht der kleinste, einfach einer seiner Myriaden von Fehlern ist es, zu sagen, Populismus als Schimpfwort gäbe es nur bei der linken Intelligenz. Lassen Sie es mich so ausdrücken: falsch. Populismus ist überall da und immer dann ein Schimpfwort, wo und wenn irgendwer auf das pfeift, was ich gut finde und etwas tut, was andere Leute gut finden. Das ist auf jeden Fall populistisch, und dafür gibt es Schimpfe. Nicht nur bei der linken Intelligenz, sondern auch beim rechten Volltrotteltum. Man mache die Probe aufs Exempel, gehe zu Google und tackere „Mindestlohn“ und „populistisch“ in die Suchzeile: die rechten Volltrottel werden einem die Bude einrennen. Was für ein hohles Strohdepot kann glauben, mit so einem unterirdischen Stuß durchzukommen? Was für eins? – Na seins. – Und, kommt es damit durch? – Beim SPIEGEL? Na immer!
Wenn man ihm einen Vorwurf machen kann, dann den, dass er sich den WDR-Redakteur Heribert Schwan ins Haus geholt hatte, um sich bei seinen Memoiren helfen zu lassen.
Ok, es war doch die Nachtigall. – Kohl, du Verräter! Wie konntest du! Einen vom Rotfunk! Hätte man da nicht einen Würdiger’n finden können? Jedenfalls einen Würdegern? – Gewiß hätte Kohl. Aber so ist das eben bei Popstars: sie haben es gar nicht nötig. Je ruppiger sie ihre Groupies behandeln, desto größer ihr Ruhm, desto mehr drängen nach. Darunter natürlich auch welche, bei denen man sich was einfangen kann. Selber schuld!
Dass man einem Mann vom Rotfunk nicht trauen kann, hätte der alte Fuchs eigentlich wissen müssen; Verrat war schließlich immer eine zentrale Kategorie seines Denkens. Schwan hatte sich durch ein freundliches Filmporträt für den Job empfohlen. Die größten Fehler resultieren in der Politik nicht aus Nachlässigkeit oder Ignoranz, wie man sieht, sondern aus Eitelkeit.
Wie man sieht? Sieht man das denn? Woran sieht man das denn? Daran, daß hier steht, daß man es sieht?
Und noch eine rhetorische Frage: hat schon mal irgendwas von dem, was dieser Federheld daherkleckste, gestimmt? Gestimmt im Sinne von ‚eine Ähnlichkeitsbeziehung zur Wahrheit unterhaltend‘? – Ich entsinne mich einer Lesung Hans Wollschlägers im Rotfunkhaus Hannover, es kann nicht vor 1982 und wird nicht vor Dezember gewesen sein, wahrscheinlich war es erst im Frühjahr 83 – mir ist, als hätten vor dem Funkhaus die Mandelbäume geblüht -, denn der sich dort eingefunden habende hannoversche Geistesadel (es gab viele freie Plätze), gnickerte zufrieden in sich hinein, als Wollschläger, wie er es gerne tat, über die Wiederkehr des Ewiggleichen filosofierte und die Frage in den Sendesaal stellte und dann unbeantwortet dort stehen ließ: warum ‚das Volk‘ sich seine Regenten immer wieder aus dem geistigen Prekariat rekrutiere, wo nicht aus dem Abhub.
Prekariat wird er nicht gesagt haben, ich vermute, der gewählte Ausdruck war: geistiger Mittelstand. Aber der Mittelstand der sorglosen Achtziger ist das Prekariat von heute, ist zumindest objektiv abstiegsgefährdet, und von subjektiven Abstiegssorgen gebeutelt; sechzehn Jahre Kohl und sieben Jahre Schröder („nicht alles anders, aber vieles effektiver“) haben das Ihre getan. – Der anwesende Geistesadel jedenfalls kicherte und glaubte zu wissen, wer da soeben als geistiger Abhub bezeichnet worden war, obwohl der ja strenggenommen nicht vom ‚Volk‘ gewählt, sondern von den Verrätern Lambsdorf und Genscher ins Palais Schaumburg geputscht worden war. Aber ein Wollschläger denkt und dachte natürlich immer in ganz anderen historischen Dimensionen als denen popeliger Tagespolitik. – Ich will übrigens niemandem zu nahe treten, will den Wollschläger-Fans nicht zumuten, sich als links, und schon gar den Linken nicht, sich als Wollschläger-Fans bezeichnen zu lassen. Aber die riesengroße Achillesferse wollschlägerscher Volksferne, die ihm weder die Linken noch die Fans absprechen werden und die hier deutlich unter seiner Schlaghose hervorschaut – wir sind in den frühen Achtzigern – qualifiziert ihn jedenfalls als linke Intelligenz im Sinne Fleischhauers. Mir persönlich ist es ja ganz egal, was einer ist. Hauptsache er ist kein Kolumnist und arbeitet nicht für den SPIEGEL.
Aber was ich gerne mal wüßte, welche Frage ich jedenfalls gerne mal in den Cyberspace stellen möchte, auch wenn sie dann unbeantwortet für alle Ewigkeit dort stehenbleibt: auf welchem geistigen Rieselfeld findet eigentlich der Storch die kleinen Kolumnisten, die er dann dem SPIEGEL bringt?