Welfenspeise

Als es in der Flüchtlingsunterkunft im siegerländischen Burbach zu – wie soll man sagen? Zwischenfällen? Zwischenfall klingt so nichtssagend, das kann alles sein – als es in der Burbacher Flüchtlingsunterkunft zu Incidents kam – nein, falsch! als es in der Flüchtlingsunterkunft zu Incidents kam, an denen Wachleute einer Firma mit dem absolut vertrauenszerstörenden Namen „European Home Care“ beteiligt waren, da passierte noch gar nichts. Erst als in der Presse über einen youtube-Beitrag berichtet wurde, der in einem gewissen Zusammenhang mit den Incidents in der Unterkunft stand, an denen, nicht zu vergessen, auch Bewohner der Unterkunft beteiligt waren, darunter Bewohner wenig vertrauenswürdiger Herkunft (aus Ländern, Staaten, failed states, die ihre eigenen Bürger außer Landes treiben), erst dann passierte etwas. Dann wurde nämlich – und zwar zurecht – darauf hingewiesen, das die Incidents zwar durch nichts zu rechtfertigen seien, gar keine Frage, daß man aber auch die andere Seite der Medaille sehen müsse, daß nämlich an den Incidents nicht nur Wachleute beteiligt gewesen seien, sondern auch Bewohner, darunter sogenannte Pappenheimer, die man bei kleinem kenne, und die jedesmal dabei seien, und daß es geradezu verwunderlich sei, daß es bei der Masse an Incidents in den Unterkünften nicht häufiger zu solchen – wie solle man sagen? Zwischenfällen? – Vorkommnissen komme.

Nun waren ganz ähnliche Töne zu vernehmen, Töne, wie man sie vornehmlich von Stammtischen her kennt, so daß es nicht zu verwundern ist, wenn sie – und zwar gestern abend – am Käsdorfer Donnerstagsstammtisch laut wurden. Der Kollege Germanistenfuzzi kolportierte, daß seine – wie soll man sagen? Gespielin? – Lebenspartnerin, Frau Tausendschönchen, welche im Seniorenheim am Ende des Pfaffenackers demente Herrschaften betreut, Augen- und Ohrenzeugin eines ganz ähnlichen Incidents geworden sei. Es sei da nämlich eine Dame wohnhaft, die nicht mehr sehr orientiert sei, nicht wisse, wo sie sei und warum, und nicht verstehe, was man von ihr wolle und warum man ihr ständig mit irgendwas in den Ohren liege. Diese Dame nun habe – sie bekomme alles Essen püriert; denn sie brauche sehr lange zum Essen, sehr lange; sei es, daß sie immer wieder vergesse, was sie gerade tue oder tun solle, sei es, daß ihr Gemüt nicht mehr so beschaffen sei, sie rechtzeitig gewahr werden zu lassen, was es als nächstes zu tun gelte, kauen? Oder schlucken? Oder mit dem Finger einer imaginären Linie auf der Wachstuchdecke folgen und dazu verträumt vor sich hin summen? Jedenfalls verspreche sich das Wachpersonal der Betreiberfirma – ein Unternehmen mit dem nicht mehr sehr vertrauenerweckenden Namen ‚Diakonie‘ – von der Pürierung eine Beschleunigung des Nahrungsaufnahmeprozesses, da man zum Füttern eines Menschen mit Pamp nur eine Hand, ein Lätzchen sowie die Bereitschaft brauche, mit der anderen Hand die Würde des Betreuten anzutasten. Wenn es zum Abendessen also Kartoffelsalat mit Würstchen gebe, und Kakao zum Trinken, dann bekomme die Dame pürierte Würstchen mit püriertem Kartoffelsalat und püriertem Kakao – aus einem Napf, sehr wohl gemerkt. Es schmecke diese Pampe, es sei nicht anders zu erwarten, gotteslästerlich, und sie sehe auch gotteslästerlich aus. Er habe früher seinem Großvater beim Füttern der Schweine zugesehen, erzählte Germanistenfuzzi, der habe aus einem alten Großküchenmayonneseeimer irgendein Mehl in den Trog gekippt, und aus einem alten Großküchensenfeimer Wasser hinterdrein, und die Schweine hätten sich auf den Trog gestürzt wie nicht gescheit.

Er habe einmal ausprobieren wollen, ob sie wirklich nicht gescheit seien, und habe den Pamp probiert, woraufhin eine der Töchter des Opas, seine Mutter, schier unsinnig habe werden wollen, weil in jenen Tagen in jener Gegend die Maul- und Klauenseuche gewütet habe, allerdings nur beim Rindvieh. Darum sei ihm auch weiter nichts passiert, außer, daß mehr als ein Mannesalter später Frau Tausendschönchen, der er davon erzählte, ihn eine Woche lang nicht hatte küssen wollen. Als trüge er das Virus nach wie vor auf den Lippen. Der Pamp habe ein wenig nichtssagend geschmeckt, und die Frage, ob die Schweine seines Großvaters gescheit gewesen seien oder nicht, habe unentschieden bleiben müssen.

Anders als das Schweinefutter sei die Pampe aus dem Seniorenheim aber für den menschlichen Genuß nicht geeignet, und anders als der Schweinezüchter, der wisse, daß das Schwein nur dann das gewünschte Gewicht ansetze, wenn ihm sein Futter schmecke, gehöre das Wachpersonal im Seniorenheim der Schule ‚Gegessen wird, was auf den Tisch kommt‘ an.

Sei es aber nicht worden. Die Dame verfüge nicht mehr über die soziale Kompetenz, ein Essen wegen Ungenießbarkeit zurückgehen und sich den Küchenchef kommen zu lassen, aber sie verfüge noch über die grobmotorischen Fähigkeiten, einen Napf mit Pampe vom Tisch zu werfen. Das habe sie getan, damit auch dem Wachpersonal verständlich kundtuend, daß sie mit dem Hauptgang fertig sei. Ihr Griff nach der Welfenspeise, die der Küchenchef als Nachtisch vorgesehen hatte, sei von der empörten Wachfrau, die bis dahin versucht hatte, sie mit einer Hand zu füttern und mit der anderen Hand dem Herrn zur anderen Seite das Messer wegzunehmen, mit dem dieser bis dahin den Kartoffelsalat zum Munde geführt hatte und von dem ihm das Würstchen immer wieder herunterrollte, so daß er es schon aufgeben wollte – von dieser Wachfrau, auf deren Kittel ein Großteil der Pampe gelandet war, wurde der Griff der alten Dame nach der Welfenspeise vereitelt.

Auf die verblüffte Frage von Frau Tausendschönchen, was das denn bitte schön solle, versetzte die Wachfrau, daß es den Nachtisch nur für die Leute gebe, die ihren Teller leer gegessen hätten. Und auf die Vorhaltung, es sei aber doch kein Teller, sondern ein Napf, und der sei nunmehr leer, ward ihr Bescheid, sie, die Wachfrau, kenne ihre „Pappenheimer“. Das sei „bei denen“ immer so. Wenn es „nach denen“ gehe, würden die nur Nachtisch essen.

Ja und?

Das gehe nicht. Sie trage schließlich die Verantwortung. Es müsse im Anschluß an das Essen dokumentiert werden, was die Bewohner zu sich genommen hätten; der mediznische Dienst der Krankenkassen, der alle naslang unangekündigt daherschneie und die Dokumentation prüfe, verstehe in der Hinsicht keinen Spaß.

Aber es würden doch nur Kalorienzahl und Flüssigkeitsmenge dokumentiert, nicht aber, ob Hauptgang oder Nachspeise?

Das sei egal. Es komme nicht infrage, daß einer nur Nachtisch esse. Das sei auch ungesund. Es komme schließlich nicht nur auf die Kalorien an, man brauche auch Eiweiß, Mineralien, Spurenelemente, Vitamine und Ballaststoffe.

Was sie denn dann jetzt dokumentieren wolle, nun, da die Dame gar nichts gegessen habe?

200 kcal und 150 ml Flüssigkeit, das sei Standard, wenn einer gar nichts esse. Damit sei der medizinische Dienst zufrieden und es komme nicht zu Nachfragen. Wenn es erst zu Nachfragen käme könne, wessen Kürzel im Computer stehe, gleich ins Büro gehen und sich die Papiere holen. Bei Nachfragen des MDK nämlich verstehe die Geschäftsleitung keinen Spaß.

Auch keinen Spaß, erzählte Germanistenfuzzi weiter, verstehe der medizinische Dienst anscheinend, wenn die Senioren nicht ausreichend mit geistiger Anregung konfrontiert würden. Folgende Situation habe sich anderntags ergeben, da habe Frau Tausendschönchen, die für die geistige Anregung der Herrschaften zuständig sei, einer anderen Bewohnerin, einer gelähmten Frau, die in der Folge auch nicht sprechen, sondern nur nonverbal zu verstehen geben könne, ob eine Maßnahme ihren Beifall finde oder nicht – sie könne zum Beispiel lächeln oder gequält dreinschauen -, in ihrem Zimmer, in dem sie, die vor einem schweren Unfall Gambistin gewesen sei, eine kleine Sammlung von CDs mit alter Musik habe – von der sie aber nichts habe, da sie die Tasten ihres CD-Players nicht drücken könne, geschweige denn eine CD aus der Hülle nehmen -, dieser Bewohnerin habe Frau Tausendschönchen langsam die Titel der CDs vorgelesen, einen nach dem anderen, und dann, als das ablehnende Zucken des rechten Mundwinkels, mit dem die Bewohnerin ihre Uneinverstandenheit zu signalisieren pflege, erstmals ausgeblieben sei, die CD in den Player getan, den Verstärker auf moderate Lautstärke gestellt und die Bewohnerin mit einem Lächeln auf dem Gesicht und Madrigale Monteverdis im Ohr sich selbst überlassen.

Kurze Zeit später habe sie die Bewohnerin im Rollstuhl auf dem Flur gefunden, das gequälte Gesicht zur offenen Tür der Wachstube gerichtet, aus der mit ca. 60 Dezibel die – was soll man dazu sagen? Musik? – Höllengesänge Wolfgang Petrys ins Freie gespült worden seien. Ja, man habe die Bewohnerin aus ihrem Zimmer geholt, habe die diensttuende Wachfrau gesagt und sich ein neues Schüsselchen mit Welfenspeise genommen, die am Vortag übrig geblieben war und irgendwie den Weg in die Wachstube gefunden hatte, und sie – die Bewohnerin – auf den Flur gestellt, damit sie „ein wenig Abwechslung habe“. Der medizinische Dienst sei im Haus, und der sehe es gar nicht gern, wenn Bewohner einfach so, ohne geistige Anregung, sich selbst überlassen würden. So habe sie sie auch unter Kontrolle und könne jederzeit nachschauen, was für ein Gesicht sie mache und ob es ihr auch gut gehe. Auch sei es nicht erlaubt, Nahrung, die die Bewohner nicht zu sich genommen hätten, zu essen. Diese müsse vielmehr der Vernichtung zugeführt werden. Weswegen es nett wäre, wenn Frau Tausendschönchen, die auf ihrem Weg auch an der Küche vorbeikomme, die leeren Schüsselchen, drei an der Zahl, dorthin mitnehmen würde, denn wenn der MDK die Schüsselchen auf der Wache fände, könnte sich die Wachfrau auch gleich ihre Papiere aus der Verwaltung holen.

Frau Tausendschönchen, die auf ihrem Weg auch an der Verwaltung vorbeimußte, habe angeboten, diese gleich mitzubringen, und habe die Schüsselchen wie auch die Wächterin mit offenem Mund und ohne geistige Anregung sich selbst überlassen, berichtete Germanistenfuzzi. Dann bat er Louis den Wirt, ihm das ‚Handbuch des deutschen Stammtisches‘ zu bringen, blätterte ein wenig darin, tat, als hätte er eine gesuchte Stelle gefunden, und deklamierte:

„Wo kämen wir den hin, wenn jeder machen wollte, was er will! Das kann doch niemand wollen. Das ist doch auch gar nicht machbar. Der eine will Frank Sinatra hören, der andere Elvis Presley. Der dritte Glenn Miller. Und dann? Was wäre das Ergebnis? Höllenlärm. Da muß man sich halt mal einigen. Am besten auf einen, den niemand hören will, dann wird keiner bevorzugt. Zum Beispiel auf – warum denn nicht? – Wolfgang Petry. Aber wenn man sich dann auf Wolfgang Petry geeinigt hat, dann muß das auch gelten, und zwar für alle. Dann kann nicht einer hergehen und sagen, er will Monterosso hören.“

Monteverdi.

„Oder Monterossi. Auch eine ehemalige Bratschistin kann das nicht.“

Gambistin.

„Ehemalige. Ehemalige Gambistin. Die auch nicht. Denn keiner ist besser als der andere. Und nur, weil einer sich nicht mehr bewegen kann, ist er noch nichts Besonderes. Der andere kann vielleicht nicht mehr gut hören. Der hat es auch nicht leicht. Der zwingt deswegen den Leuten seinen antiquierten Musikgeschmack auch nicht auf.“

Wer bitte tut das denn?

„Es ist doch mal so: es muß doch etwas geben, was für alle gilt. Es muß doch einen geben, der sagt, wo es lang geht. Das ist nicht anders als beim Militär. Und die anderen müssen gehorchen. Denn der trägt ja dann auch die Verantwortung. Zum Beispiel gegenüber dem MDK. Oder der obersten Heeresleitung! Was wäre denn gewesen, wenn der Befehl, die Stadt Stalingrad bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, nicht befolgt worden wäre? Wenn jeder sein Gewehr weggeworfen hätte, und versucht hätte, auf eigene Faust zu überleben? Mord und Totschlag wären die Folge gewesen.“

So auch.

„So auch, das ist schon richtig. Aber diszipliniert und ohne Chaos. – Und die vielen Landser, die später mit allen möglichen Behinderungen im Pflegeheim gelandet sind, die hatten es nicht so leicht, wie unsere Alten heute! Da gab es nicht jeden Abend Kartoffelsalat mit Sülze!“

Würstchen.

„Auch nicht! Auch nicht mit Würstchen. Das hat es früher einfach nicht gegeben, daß man gutes, deutsches Essen vom Tisch geworfen hat. Da hatte man noch Ehrfurcht vorm Leben!“

Vorm Leben?

„Und vorm Tod auch! Das Schwein hat ja sein Leben gegeben, für das Würstchen. Und die Kakaobohne. Und sie fegt es so einfach vom Tisch.“

Germanistenfuzzi!

Ja?

Halt die Klapppe!

Nicht meine Worte. Steht so im Handbuch.

Klapp’s zu!

Gleich.

Nicht gleich, jetzt!

Sofort.

„Alles was ich sagen will ist: es ist nicht immer nur das Wachpersonal. Es sind auch die Bewohner. Da sind üble Zeitgenossen dabei. Die schon immer üble Zeitgenossen waren. Zum Beispiel ehemaliges Wachpersonal. Die werden ja nicht plötzlich Engel, nur weil sie alt und siech werden.“

Warum eigentlich hat man …

„Wenn da die oberste Heeresleitung nicht von Anfang an für Disziplin sorgt …“

… die Welfenspeise nicht mit in den Kartoffelsalat gequirlt?

Und das Würstchen.

Und das Würstchen?

Und den Kakao.

Und den Kakao?

Ich nehme an, weil dann auch die Welfenspeise für den menschlichen Genuß verloren gewesen wäre. So hat man immerhin sie retten können.

Eines müsse ihm im Leben noch gelingen, sinnierte Germanistenfuzzi bei einer mitternächtlichen Welfenspeise – die Louis überraschenderweise aus irgendeinem Reptilienfonds herbeigezaubert hatte -, ehe sich die Pforten eines Seniorenheimes hinter ihm schlössen und er alle Hoffnung fahren lassen werde. Denn daß die gesellschaftliche Attitüde gegenüber der Altenaufbewahrung und derer zulässigen Kosten sich grundlegend ändern werde, sei ja eher nicht zu erwarten. Es müsse ihm gelingen zu ertauben, solange er es in der eigenen Hand habe, wovon er taub werde. Mit den Augen sei er ja mittlerweile gut zu Fuß, dorthin, wo er das Elend eines Tages nicht mehr werde mitansehen müssen, weil nicht können, aber schwerhörig sei er noch nicht. Der Schwiegersohn seines Opas, sein Vater, ja, der sei schwerhörig gewesen. Der habe es nur nicht wahrhaben wollen, und habe ebenso steif wie fest behauptet, nicht schwerhörig zu sein. Sei er aber doch gewesen. Er, Germanistenfuzzi, hingegen nicht. Anderslautende Bezichtigungen seien üble Nachrede seitens Frau Tausendschönchens. Er höre sehr gut, wenn auch selektiv.

Aber wenn erst die Generation Wacken oder die Generation Berghain die Mehrheit der Bewohner der Seniorenheime stellen werde, wolle er nicht als Seniorgruftie dazwischensitzen und sich deren dann antiquierten Musikgeschmack aufzwingen lassen. Dann sei es mit selektivem Hören nicht mehr getan. Dann gehe es ans Eingemachte. Dann zähle er auf Taubheit.

Denn was immer man gegen die – wie solle man sagen? Qualitäten? – Qualqualitäten eines Wolfgang Petry vorzubringen habe, es sei ja nicht so, daß diese nicht noch steigerbar wären.

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