Bundespräsident Gauck hat Unbehagen darüber geäußert, daß das Volk der Thüringer drauf und dran ist, einen Mann zum Ministerpräsidenten gewählt zu haben, der für alle Verbrechen der DDR verantwortlich zu machen ist, weil er sie nicht verhindert hat. Anders als Gauck, der sie verhindert haben würde, wenn er an Ramelows Stelle gewesen wäre, und der ihnen ja letztlich auch ein Ende machte. Was hingegen Ramelow getan haben würde, wäre er an Gaucks Stelle gewesen, mag man sich gar nicht vorstellen. Es disqualifiziert ihn auf jeden Fall eventuell. Schlimmer aber scheint das Volk zu sein, das ihn wählte:
„Naja, Menschen, die die DDR erlebt haben und in meinem Alter sind,“ sagte Gauck im Bericht aus Berlin, „die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um dies zu akzeptieren. Diese Thüringer! Hat nicht Albrecht der Entartete mal versucht, Thüringen an Erfurt zu verkaufen, um seine Kriegskasse aufzubessern? Und es dann an den deutschen König verkauft? Aber wir sind in einer Demokratie. Wir respektieren die Wahlentscheidungen der Menschen und fragen uns gleichzeitig: An wen wird der Mann, der Thüringen als Ministerpräsident regieren soll, seine Untertanen demnächst verkaufen? Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von jener entarteten SED, die nicht nur Thüringen, sondern Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Vorpommern, die Haupstadt der DDR und nicht zuletzt Mecklenburg Stück für Stück, Häftling für Häftling um schnöde Devisen an das feindliche Westdeutschland zu verkaufen suchte, ehe ich und die anderen Kirchenleute und das Neue Forum und ich ihr in den frevelnden Arm fielen?“
„Ich frage mich das, und wie man an der Frage schon hört, ist es nicht so. Fünfundzwanzig Jahre nachdem ich zusammen mit dem Neuen Forum und den anderen Kirchenleuten – nicht zu vergessen meine Wenigkeit – die SED in die Wüste gepredigt habe, wäre es verkehrt, einen Mann, der nicht nur kein Thüringer, kein Sachse, kein Anhalter, kein Pommer, kein Brandenburger, kein Bürger der Hauptstadt der DDR und kein Mecklenburger ist, und der noch nicht einmal in der SED war, zum Ministerpräsidenten zu machen. Das wäre so, als hätte man 1970 in der damaligen Bundesrepublik einen Mann zum Ministerpräsidenten gemacht, der nie in der NSDAP gewesen ist. Undenkbar! Klug hatte man statt dessen schon fünf Jahre zuvor dafür gesorgt, daß ein ehemaliges NSDAP-Mitglied Bundeskanzler werden und auf diese Weise das zerrissene Land versöhnen konnte. Aber können wir einer Partei, die in drei Bundesländern an der Regierung beteiligt war, zum Teil noch ist, die ein halbes Dutzend Landräte und eine handvoll Oberbürgermeister stellt, und das zum Teil seit Jahren, so daß es eigentlich überhaupt nicht erwähnenswert wäre, wenn sie nun auch noch einen Ministerpräsidenten verantwortet, aber ich bin nun einmal gerade bei der ARD und höre mich gerne reden und liebgewordene Selbstverständlichkeiten rhetorisch infrage stellen – können wir dieser Partei voll vertrauen? Das frage ich uns, und an der Frage hört man schon, so meine ich, daß es nicht so ist.“
„Denn gibt es überhaupt Parteien, denen man voll vertrauen könnte? Auch wenn man nüchtern wäre? Unabhängig davon, ob man es sollte?“
Es gibt Teile in dieser Rede des Präsidenten, wo man – wie bei vielen anderen seiner Reden auch – Probleme hat, volles Vertrauen in seine Ohren zu entwickeln.
Der Vorsitzende des Käsdorfer Donnerstagsstammtisches, Gero, hat Unbehagen darüber zum Ausdruck gebracht, daß das Volk zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt in brüderlichem Zusammenhalt, jedenfalls mehrheitlich, einen Mecklenburger zum Bundespräsidenten gewählt hat. „Naja, Menschen, die – wie ich – die DDR aus dem Westfernsehen kennen und kannten, und die in meinem Alter waren und sind, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um das zu akzeptieren. Aber wir sind – und wir für unser Teil waren schon damals – in einer Demokratie. Wir respektieren die Fehler, die die Menschen in der DDR machen und machten. Und sie machten Fehler! Sie glaubten zum Beispiel, daß man dem Westfernsehen über den Weg trauen dürfte. Und sie machen auch heute Fehler, wenn sie etwa glauben, daß man einem Bundespräsidenten aus ihrer Mitte über den Weg trauen sollte. – Aber bei allem Respekt fragen wir uns gleichzeitig, ist dieses Volk, das da den Bundespräsidenten stellt, schon so weit weg von den krausen Vorstellungen, die es einst hatte? Zum Beispiel, daß es das Volk sei? Und also was zu sagen hätte und in Zukunft haben würde?“
„Man muß ja bedenken – das heißt, wenn man das kann; nicht jeder kann es. Wo kommen Sie her, aus dem Westen? – Gut, dann könnten und sollten Sie bedenken, daß die Menschen im Osten es ja nicht gewohnt waren, selbst zu denken. Sie wußten, daß für sie gedacht wurde und sie selbst sich um nichts zu kümmern brauchten. Sie lernten es nicht, das selbständige Denken, weil sie es nicht lernen mußten und auch nicht lernen wollten und es in der Folge nicht lernen konnten. Und es ja auch nicht lernen sollten und jedenfalls nicht taten. Sind fünfundzwanzig Jahre, in denen sie auf sich selbst gestellt waren, wirklich schon genug, um siebenunddreißig Jahre Westfernsehen aus den Köpfen zu vertreiben, so daß wir ihnen voll vertrauen können?“
„Und es gibt Köpfe in diesem Volk, wo ich – wie viele andere auch – Probleme habe, dieses Vertrauen zu entwickeln, weiß der Kuckuck! Sollte man denen nicht, im Falle daß sie über die Stränge schlügen und es mit der Eigenverantwortlichkeit übertrieben, eine Autorität zur Seite oder vor die Füße oder auf den Kopf stellen, die sie zur Ordnung riefe und mit väterlichem Tadel auf den Pfad der Tugend zurückquasselte, wenn ihnen die Freiheit nicht bekäme? Und sie beispielsweise wählten wen sie wollten? – Und erlebe ich nicht gerade dieser Tage im Netz – und zwar sowohl im Westnetz wie auch im Internet der DDR – einen heftigen Meinungsstreit: Ob nicht gerade der Vogel Gauck das beste Beispiel für den Bedarf an seinesgleichen und die Rechtfertigung der Existenz von Typen wie ihm sei?“
„Ein perfektes perpetuum mobile. Eine Kuckucksuhr, die sich durch ihr Geschrei immer wieder selbst aufzieht.“
Sein Stammtischbruder und Kollege Germanistenfuzzi hingegen gab auf gleicher Sitzung ein anders geartetes Unbehagen zu Protokoll, Unbehagen gleichwohl. Und zwar bezüglich des Paars Thüringer Bratwürste, die ihm der Wirt des Pilgrimhauses, Louis, auf seine Bestellung hin nebst Kartoffelsalat und Garnitur neben das Bierglas gestellt hatte. „Naja, Menschen, die Louis‘ Kochkünste erlebt haben, und die – nicht unbedingt in meinem Alter sind, das muß nicht sein, die ihn aber schon genauso lange kennen wie ich, es gibt ja Jüngere, die kennen ihn schon länger; ich meine Leute, die noch Andi den Zonenkoch als Küchenchef erlebt haben, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um Louis als Koch zu akzeptieren. Aber wir sind – als Stammtisch zumal, aber auch jeder einzelne – der Idee der Freiheit verbunden und respektieren es, daß einer sich die Kante gibt, wenn er sich die Kante geben möchte. Auch dann, wenn er in der Küche steht und um die Mägen seiner Gäste besorgt sein sollte. Oder wenn er etwa Bundespräsident wäre, und sich um die geistige Unversehrtheit seiner Untertanen bekümmern sollte. Aber ich frage mich gleichzeitig: Ist diese Thüringer Bratwurst bereits so weit entfernt vom Zustand der Rohheit, die sie einst hatte, als rohe Schlachterhände ihr das Brät in den Darm stopften? Kann ich dieser Wurst voll vertrauen? Und es gibt Teile in dieser Wurst, zum Beispiel dieser Abschnitt hier: da, etwa zwischen Etsch und Belt, wo ich – und ich bin sicher, wie mir ginge es vielen – Probleme habe, dieses Vertrauen zu entwickeln.“
„Und ich frage mich: sind diese Thüringer schon soweit durch, daß man sie auf die Menschheit loslassen könnte?“