In Thüringen ist die Zeit heute morgen zurückgedreht worden. Was bislang als undenkbar galt, daß nämlich diese unfaßbare Größe, die wir mangels eines besseren Ausdrucks ‚Zeit‘ nennen, und von der nicht wüßten, wie wir sie denn sonst nennen sollten – vielleicht ‚Jasper von Altenbögge‘? Was würde das schon groß ändern? -, dieser flüchtige Stoff, der uns immer unter den Händen zerrinnt wie ein alter Camenbert in der Pfanne, daß diese Zeit, von der wir annahmen, daß sie nie etwas anderes tun würde, als sturheil geradeaus und mit sturköpfig eingehaltener konstanter Geschwindigkeit, vor der ein Tempomat erröten müßte …
Ah! wir wollen uns nicht verdüstern! Nicht von Erröten sprechen an diesem Tag, an dem noch soviel Blut auf das Kopfsteinpflaster thüringischer Gassen fließen und durch die Spurrinnen rinnen wird, Herzblut natürlich, metaphorisches. Kein echtes. Obwohl: weiß man’s denn? Nun, da alle Naturgesetze auf den Kopf gestellt sind, die Zeit einen Satz nach hinten getan hat, und passiert ist, was nie hätte passieren dürfen, daß nämlich ein Sozialdemokrat Ministerpräsident von Thüringen werden konnte. Ein Sozialdemokrat, will das sagen, der glaubt, was er glaubt, nicht ein Sozialdemokrat wie die anderen Sozialdemokraten, die alles und nichts glauben und die nur darum ein Parteibuch haben, weil es dann besser flutscht.
Was soll nun werden, nun, da Thüringen sich spalten wird? Da der Drachentöter Biermann Auftrittsverbot erhalten wird? Der Ramelow-Putin-Pakt und die nächste polnische Teilung bevorstehen? Schon versammeln sich PGs, die die Zusammenlegung von SPD und Linke unter dem Namen ‚Sozialistische Einheitspartei Thüringens‘ fordern, Plakate mit der Forderung ‚Schambach in die Produktion!‘ werden über die Plätze getragen, eine landeseigene Ermittlungsbehörde für politische Straftaten wird gefordert, und im Intershop-Turm in Jena soll der erste Intershop entstehen.
Thüringen steht am Abgrund der Unvollkommenheit und blickt in den Abgrund der Unvollkommenheit. Der Abgrund blickt zurück und schweigt. Was soll er machen? Auch er wird sich fragen, was nun werden soll? Wird alles noch abgründiger, noch unvollkommener?
Soll er noch schnell umsatteln und Chefkommentator bei der FAZ werden?