Morton Stein

Vom Älterwerden

Harold Morton Stein wird älter. Das kann er nicht unkolumniert lassen, und das wird er nicht unkolumniert lassen. Da hätte das Alter eben besser aufpassen müssen, mit wem es sich anlegt.

Ich bin ja leider alt genug, mich an die Zeit zu erinnern, als eine außerparlamentarische Opposition bei uns herummarschierte. Das ist lange her. 47 Jahre. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es 47 Jahre her war, daß die Welt mich erblickte und einen verblüfften Moment lang innehielt. Das ist auch schon lange her. Daß ich 47 war, meine ich. 15 Jahre. Ich bin nämlich 53 – Jahrgang 53. Wenn man 47 zu 53 addiert, ergibt das 2000, weniger 32, das ist 2 hoch 5, macht 1968. Damals war ich 15. Der Jahrgang 52 war schon 16, 2 hoch 4, und durfte in der Öffentlichkeit rauchen und ohne Begleitung Erwachsener Lokale aufsuchen. So war das damals. Ich gehörte noch nicht richtig dazu, hatte aber schon lange Haare. Die Jahrgänge 54 aufwärts trugen die Haare noch wie die Hitlerjugend.

Die großen Jungens waren damals auch alle schon Kommunisten. Wir wollten auch Kommunisten sein, und liefen ‚Dubček! Svoboda! Dubček! Svoboda!‘ schreiend über den Schulhof. Ein großer Junge verwies uns das, weil wir doch gar nicht wüßten, was wir da eigentlich schrien. Wir sollten lieber ‚Haut se, haut se, immer in die Schnauze!‘ schreien. Ich habe mir das gemerkt, und bin dann später extra Kommunist geworden.

Wenn ich heute die außerparlamentarische Opposition von rechts ‚Haut se, haut se, immer in die Schnauze!‘ schreien höre, kommen mir alle die Parallelen zu früher in den Sinn, und die Augen werden mir zwar nicht feucht, aber ich muß ein bißchen zwinkern. Es sind auffällige Parallelen, wie mein Kolumnistenkollege vom Tagesspiegel schreibt, und er hat recht, denn sie verlaufen die Kreuz und die Quer, schneiden sich und bilden veritable Knäuel, aber das macht nichts. Dem leicht verschleiertem Blick dessen, der zwinkern muß, stellen sie sich als ausreichend parallel dar.

Da ist zum Beispiel der Altersdurchschnitt: die 68er waren im Schnitt ein paar Jahre älter als ich. Aus denen konnte im Lauf der Zeit noch alles werden. Ist es auch geworden: Politiker, Kolumnisten, Verbrecher. Die Pegidaleute sind im Schnitt ein paar Jahre jünger als ich. Ungefähr so alt wie der durchschnittliche Passatkäufer (Limousine). Da kommt ein Haufen Lebenserfahrung zusammen, bei 15.000 Passatkäufern. Aus den unterschiedlichsten Erfahrungswelten: Politik, Journalismus, Verbrechen. Da hat sich also im Prinzip nicht viel geändert, außer daß ich sozusagen die Seiten gewechselt habe. Aber haben wir das nicht alle? Wer von uns ist denn heute noch in der DKP? Und da haben wir schon die nächste Parallele: mein erster Parteivorsitzender hieß auch Bachmann, wie der Oberpegide. Vielleicht ist er heute noch in der DKP, ich bin es nicht.

Zum anderen ist da die Angst, die uns eint: wir alle hatten damals Angst vor Weihnachten, Angst vor der Familienfeier mit den Eltern, Angst vor der hundertsten Erzählung von Heiligabend im Bunker, von der russischen Familie, die auf dem Ofen schlief, und den gefrorenen Scheißhaufen neben dem Bahnhof, der immer höher wurde, und in dessen Mitte ein Stock stak, an dem man sich festhalten konnte. Die konservative Apo heute hat auch ihre Ängste: sie fürchtet sich davor, daß man ihr die Weihnachtsmärkte in Zukunft in Wintermärkte umtauft. Ich finde das verständlich, ich finde, sie sollen ruhig weiter Weihnachtsmärkte heißen. Wir nennen ein etwas schlichtes Gemüt ja auch nicht Wintermann, sondern Weihnachtsmann. Die sonderbare Idee kommt natürlich aus Amerika, und das ist das dritte, was uns eint: Amerika geht gar nicht. Amerika ging damals schon nicht und geht auch heute nicht. Damals war es Napalm, heute ist es Chlorhuhn.

Dann hatten wir Kommunisten den Krieg gegen Amerika gewonnen hatten, und hatten Zeit, uns bei unseren Landsleuten ein bißchen lieb Kind zu machen. Wir verkauften damals Winterbäume vom Treckeranhänger, also Tannenbäume. Weihnachtsbäume. Zu Dumpingpreisen, um dem Kapitalismus den entscheidenden Schlag zu versetzen. Spötter nannten die DKP daraufhin Weihnachtsmann-Partei. Das war nicht nett, aber auch nicht ganz falsch. Wir waren ja wirklich etwas blauäugig. Der Kapitalismus hat den Knuff nicht einmal wahrgenommen. Im vorangegangenen Herbst hatten wir Kartoffeln verkauft, auch vom Treckeranhänger herab und auch zu Dumpingpreisen. Auch den Knuff hat der Kapitalismus ohne Zucken weggesteckt. Und während wir Weihnachtsbäume verkauften, holte Ernst Albrecht Vietnamesen ins Land, die vor den Kommunisten in Vietnam wegliefen. Das war nett von ihm, aber nicht nett gemeint, denn er tat das nur, um uns zu ärgern. Jedenfalls glaubten wir das damals. Und darum haben wir uns nicht sehr höflich über die vietnamesischen Flüchtlinge geäußert: Auswanderer mit niederen Motiven, Ami-Nutten, Schieber- und Schmarotzer-Typen, solche Sachen. Während die aufrechten Genossen, die chilenischen Folterknästen entkommen waren, lange auf Albrechts Fußmatte um Asyl betteln mußten, ehe er sie hineinließ.

Sagen wir so: sowohl er, als auch wir, haben damals die Flüchtlinge mißbraucht, um ein politisch Süpplein auf deren Rücken zu kochen. Mit Esbit-Kochern. Dabei waren ja eigentlich die Amerikaner schuld, sowohl an Vietnam, als auch an Chile. Und ein bißchen auch der Kapitalismus.

Wenn ich die APO von rechts heute über Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende und Menschen, die um ihr Leben fürchten, herziehen höre, wenn sie von Wirtschaftsflüchtlingen reden und über Asylindustrie klagen, dann schießt mir zwar nicht die Schamesröte ins Gesicht, das nicht, aber ich muß schlucken. Und dann ist es so, als ginge mir einer mit Schmirgelpapier über das Rückenmark, und ich kriege heiße Backen, und mein Puls wird etwas schneller. In den Schläfen pocht es, und mir ist, als ob ich vor mir selber weglaufen wollte. Aber wohin?

Ein bißchen Nostalgie ist wohl auch dabei. Es war doch auch schön, damals, in der Weihnachtsmann-Partei. Auf dem Kartoffelanhänger. Im roten Oktober. Trotz alledem. Und wenn es dann vorbei ist, dann wird mir milde zumut, und ich werde nachsichtig mit ihnen und denke: sie sind doch noch so jung! Der durchschnittliche Passatkäufer (Limousine, Neuwagen) ist erst 58. Es ist lange her, daß ich 58 war. Vier Jahre, das sind 2 hoch 2. Auch sie werden eines fernen Tages anders darüber denken.

Und so ein bißchen recht haben sie ja auch, gebt es zu. Daß die Amerikaner schuld an den Flüchtlingen sind, zum Beispiel, wegen der ganzen Kriege. Und jetzt auch noch der Krieg gegen die Weihnachstmärkte.

Aber sie werden den ‚War on Christmas‘ nicht gewinnen, sage ich zu Ilse. Die Amerikaner haben eigentlich noch nie einen Krieg gewonnen. Der Koreakrieg zum Beispiel, in dem, sage ich zu Ilse, die Waffen seit just dem Monat schweigen, in dem die Welt mich zum ersten Mal erblickte, sei bis heute nicht nur nicht gewonnen, sondern formal nicht einmal zuende.

Und Ilse bekommt wieder diesen gehetzten Blick, und das Blut schießt ihr in die Wangen, und sie bewegt die Schultern, als sei ihr unbehaglich, als ginge ihr einer mit Schmirgelpapier über’s Mark, und ihre Lippen beben und sie flüstert: „Dir bleibt immer noch Paris, Ilse. Dir bleibt immer noch Paris.“

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