Morton Stein

Vom Älter-Sein

Der Euro, der Frieden, der Job, die Wirtschaft, die Renten und die Ersparnisse, alles ziemlich wacklig. Überall Crashgefahr. Die Generation der 30-Jährigen ist nicht zu beneiden. Ein kommentierter Kommentar.

Chor der Alten:
O du lieber Augustin / Alles is hin
Geld is hin / Frieden’s hin
Job is hin / Wirtschaft’s hin
O du lieber Augustin / Alles is hin

Rente weg / Sparstrumpf weg
Wohlfahrtsstaat / Liegt im Dreck
O du lieber Augustin / Alles is hin

Ach, Sie sind 30 Jahre alt?

Wer?

Na, Sie.

Chor der Alten:
Ich bin Siebenunundsiebzig. – Ich Fünfundneunzig. – Und ich bin Einhundertunddrei.

Ich? Nein, ich bin 60.

Ich erzähle Ihnen, in welchem Land ich gelebt habe, als ich so alt war.

So alt wie wer?

Na, wie Sie.

Als Sie so alt waren wie ich? Wieso, wie alt sind Sie denn?

Ich? Ich bin 61. Nein, 62. Ich werde 63. Nein, 62. Ich habe mich aber noch nicht daran gewöhnt, ich denke immer, ich bin schon 62. Dabei bin ich erst 61. Ich bin nämlich Jahrgang 53. Und 53 und 61 wären zusammen 114, wir haben aber schon 15. Aber ich werde erst noch 62. Das irritiert mich. Der Jahrgang 54 ist es, der jetzt 61 sein müßte, weil 2015 minus 61 1954 ist, aber viele von denen sind erst 60.

Wem sagen Sie das?

Die werden dann erst 61, in diesem Jahr. Ich werde aber 62. So wie der Jahrgang 52, der ist aber zum Teil schon 63 und läßt sich verrenten. – Merkwürdig. Mit der Zeit fällt es mir immer leichter, mich an neue Jahreszahlen zu gewöhnen. Früher war das schwerer. 1983 z.B. habe ich im März noch ‚1982‘ auf die Euroschecks geschrieben. Das ist heute vorbei, ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letztemal ein falsches Datum auf einen Euroscheck geschrieben hätte. Dafür fällt es mir immer schwerer, mich an meine neue PIN zu gewöhnen. Wenn ich im September eine neue Karte gekriegt habe, dann benutze ich im Januar immer noch die alte PIN. Also die von der letzten Karte. Manchmal sogar die von der vorletzten. Dann sagt der Automat allerdings: Ist nicht! Dann fällt es mir wieder ein, daß ich ja eine neue Karte benutze. Das war bei den Euroschecks anders, die blieben stumm, wenn man ein falsches Jahr draufschrieb. Aber man kriegte sie zurück und mußte dann einen neuen ausstellen. Andererseits konnte man auf dem Euroscheck das Datum abkürzen. ’82‘ war genausogut wie ‚1982‘. Probieren Sie das mal mit einer PIN! – Ach, Ihr jungen Leute, ich beneide Euch nicht!

Ich bin nicht mehr jung.

Wir hatten es besser als Ihr, damals. Wir hatten Super-Euroschecks. Wohin man auch kam – sagen wir mal: Griechenland, Portugal, Spanien -, die Einheimischen spurten. Die Griechen spurten. Die Spanier spurten. Die Portugiesen spurten. Die ganze Welt ein Bordell, wie Kuba unter Batista. Und Deutschmark war die Währung.

Sie wollen nicht etwa andeuten, daß das heute anders wäre?

Die Mark ist futsch. Zwar Kuba ist auf dem Weg zurück, Bordell zu werden, aber Batista ist tot. Salazar ist tot. Franco ist tot. Papadopoulos ist tot. Spanien und Portugal sind Demokratien. Griechenland macht, was es will. Es ist nicht mehr dasselbe. – Ach, Ihr jungen Leute, ich möchte in Eurer Haut nicht stecken!

Was das angeht, sind wir uns einig. Wir möchten das auch nicht. Bleiben Sie gefälligst in Ihrer eigenen Haut.

Aber die Mark! Ihr habt sie kaum gekannt. Wie alt wart Ihr, als sie verschied? Schon geschäftsfähig? 18? 17?

Chor der Alten:
Welche Mark meint er denn, der Lümmel? – Die Reichsmark. – Jaha, Klugscheißer! Welche Reichsmark? – Ich war 10, ich weiß es noch! 1984. Im Sommer.

Achtundvierzig.

Chor der Alten:
Mein ich ja. 1948. Im Sommer. – Nicht 48, 24. Da wart ihr noch gar nicht da, ihr Lauser. – Wohl war ich da da! – Und davor? Was war davor?

Laßt Euch erzählen, wie es mit ihr war: wohin man auch kam, man war der King.

Und zuhause? Wer war man da? Hans Arsch von Rippach?

Zuhause war man auch der King. Die Gastarbeiter spurten. Die Jugoslawen spurten. Die Türken spurten. Sie spurten nicht mehr so, als es ans Zurückkehren ging. Es muß so um 83, 84 herum gewesen sein, als man den Türken gute deutsche Super-Währung anbot, damit sie den guten deutschen Super-Arbeitsmarkt nicht weiter belasteten. Sie durften sich sogar die guten deutschen Rentenansprüche auszahlen lassen und mitnehmen, so sicher waren die. Und die Super-Zinsen auf ihre guten deutschen Sparguthaben durften sie auch mitnehmen. Aber sie wollten nicht so recht. Im Nachhinein ist das schwer zu verstehen, denn es war doch alles super, damals. Daß einer nicht bleiben kann, wo er geboren worden und aufgewachsen ist, das kennen wir heute, zum Beispiel aus Brandenburg. Aber damals, als ich dreißig war, kannte man das höchstens aus Anatolien. Warum also wollten sie nicht zurück? Man versteht es heute nicht mehr. Ich würde mir ein schönes Anwesen gekauft haben. Tatsächlich habe ich mir ein schönes Anwesen gekauft, in Brandenburg, hübsch gelegen, gar nicht teuer.

Eins bloß?

Aber man versteht heute vieles nicht mehr. Wie es zum Beispiel möglich war, daß ich, als ich fertig studiert hatte, drei Jobangebote in der Tasche hatte, das kann mir heute keiner mehr erklären. Ich selbst könnte es nicht.

Drei bloß?

Es hätten auch sechs oder sieben sein können, wenn mehr Türken nach Anatolien zurückgegangen wären. Aber immerhin: drei! Sie müssen sich heute zu dritt ein Jobangebot teilen. Wenn Sie Glück haben.

Ich? Ich muß mir kein Jobangebot teilen. Zum Glück! Kein Mensch käme auf die Idee, einem Sechzigjährigen ein Jobangebot zu machen. Außer solchen, die bei mir im Spam Folder landen. Die kennen allerdings überhaupt kein Maß. Grad erst wollte mich jemand „seinem beruflichen Netzwerk auf LinkedIn hinzufügen“. Ich habe zurückgeschrieben, ob er noch ganz gesund sei? Ich persönlich hülfe lieber einem nigerianischen Thronfolger aus einer kurzfristigen Cash-Flow-Klemme, als daß ich mich mit ihm zusammen coram publico tot über jene Hecke hängen ließe. Muß man sich das gefallen lassen? Wer bin ich denn? Ein Karrierehengst?!

Ich war kein Karrierehengst, als ich von der Uni abging. Ich hatte alles dafür getan, mir ein hübsches Berufsverbot zu verdienen. Das Berufsverbot, müssen Sie wissen, war für meine Generation sowas wie das eiserne Kreuz für die Generation unserer Väter.

Chor der Alten:
Lausejunge! – Mal nicht so vorlaut, junger Mann!

Sie hätten Briefträger werden wollen sollen, nicht Journalist. Dann hätte es auch mit dem Berufsverbot geklappt.

Aber ich wollte kein Briefträger werden, da hätte ich ja Geographie studieren müssen. Ich habe aber nicht Geographie studieren wollen, sondern Geschichte. Weil ich nämlich Klugscheißer werden wollte. Oder vielmehr schon war. Einer, der den Mitessern in der Mensa jeden Bissen in den Mund diskutierte, wohl wissend, daß sie, wenn sie in der einen Hand das Messer, in der anderen die Gabel hielten, keine Hand mehr frei hatten, um sich die Ohren oder mir den Mund zuzuhalten. Das habe ich ausgenutzt.

So einer waren Sie also! Die hatte ich ja gefressen, diese Typen. Ich habe denen, die keinen Mund zum Essen frei hatten, weil sie mich agitieren mußten, immer Sachen vom Tablett genommen. Ratz! hatte der keine Kartoffeln mehr, fatz! kein Kotelett.

Sie sollten einsehen, daß die Russen die Guten und die Amerikaner kulturlos waren. Was am System lag. Ich wußte das, weil ich mich in Geschichte so gut auskannte. Für unsere Eltern war es noch andersherum. Für die waren die Russen die Bösen und die Amerikaner kulturlos. Das lag am Charakter der Russen, war aber unsystemisch gedacht. Das kam, weil unsere Eltern nicht Geschichte studiert hatten.

Chor der Alten:
Was haben wir nicht studiert? – Und ob wir Geschichte studiert haben! – Vielleicht mehr wie du! – Und Heimatkunde! Mit dem Rohrstock! – Wir haben sie noch auswendig gekonnt: 7-5-3-Bei Issos Keilerei – Wo Werra sich und Fulda küssen – Das doch nicht! – Nicht Issos! Rom! – Deutsch bis zum Meer!

Aber rückblickend muß ich sagen, daß der Frieden selten in der Geschichte so sicher war wie damals, als wir auf Friedensdemos gingen.

Jedenfalls für den, der nicht zufällig in Israel lebte oder in Syrien. Oder im Iran oder im Irak.

Chor der Alten:
Oder im Libanon. – Oder in Ägypten. – Oder in Mali. – Oder in Obervolta. – Oder in Kambodscha. – Oder in Vietnam. – Oder in Tansania. – Oder in Uganda. – Oder auf den Falklands. – Oder in Peru. – Oder in Ecuador. – Oder in Grenada. – Oder in Libyen. – Oder im Tschad. – Oder in Somalia. – Oder in Ägypten.

Hatten wir schon.

Chor der Alten:
Dann eben Äthiopien. – Oder in Osttimor. – Oder in Thailand. – Oder auf Zypern. – Oder in Zaire.

Oder in Nicaragua.

Chor der Alten:
Oder in Nicaragua.

Oder in Afghanistan.

Meinetwegen. Meinetwegen, meinetwegen, meinetwegen. Meinetwegen auch in Afghanistan. Fakt ist jedoch: der Frieden, der Frieden als solcher, der war sicher. Die Russen und Amis waren schließlich keine Irren. Kulturlos ja, was die Amis angeht, aber nicht irre. Sie belauerten einander mit ihren Mehrfachsprengkörpern in der Hand und verhinderten so das Führen von Eroberungskriegen. Wenn einer der beiden einen Eroberungskrieg angefangen hätte, hätte der andere sofort gesagt: Ist nicht! Die Russen führten sowieso keine Eroberungskriege, das wußte ich aus der Geschichte. Daß die etwas in Afghanistan zu suchen hatten, lag daran, daß sie dort was verloren hatten. Das ist kein Eroberungskrieg, das ist Logik. – Hingegen die Amis führten zwar überall auf der Welt Eroberungskriege, aber doch nicht hier bei uns in Europa! Nicht doch! Der Wiege ihrer eigenen Unkultur! Die Idee, daß es in Europa jemals wieder einen Eroberungskrieg geben könnte, wäre uns völlig krank vorgekommen.

Chor der Alten:
Krank? Eine kranke Idee? Was muß ich mir unter einer kranken Idee vorstellen? Eine Idee mit Triefnase? Bronchitis? Schlimmer Zehe? Mittelohrentzündung? – Vielleicht sollte er, statt von „kranken“ Ideen zu reden, lieber von den „Ideen eines kranken Hirns“ reden. Das wäre semantisch sinnvoller. – Jedenfalls wäre es näher an der Wahrheit.

Apropos „krank“: Die Masern waren besiegt, und in Berlin gab es zwei funktionierende Flughäfen.

Chor der Alten:
Da! Hab ich’s nicht gesagt? Krankes Hirn! Wer, außer einer gespaltenen Persönlichkeit, braucht zwei (2) Flughäfen? – Und die Masern? Wo kommen die wieder her? Ich denke, sie waren schon besiegt? – Die waren auf Elba, in Verbannung. – Und als das Vaterland sie rief, da – Nein, das war anders. Das Vaterland brauchte gar nicht zu rufen, denn –

Hört mal auf zu brabbeln! – Wie sag ich’s meinem Kinde? Nicht Kinde – Kommentator. – Wenn Sie sich damals – seinerzeit – nicht vorstellen gekonnt haben wollen, daß in Europa ein Eroberungskrieg geführt werden würde, wie Sie sagen, dann fragt man sich natürlich, warum Sie damals ständig auf Friedensdemos latschen mußten. Heute, heute halten Sie die Amis von damals vielleicht nicht mehr für irre, das kann sein. Heute haben Sie für diesen Zweck aber auch die Russen. Denn wenn Sie hier die Vokabel ‚Eroberungskrieg‘ in die Debatte schmeißen, dann wollen Sie damit ja was sagen. Frage daher: Was wollen Sie damit sagen? – Daß heute in Europa Eroberungskriege geführt werden, wollen Sie damit sagen. Ich nehme mal an, Sie meinen damit den Krieg im Donezbecken. Sie könnten damit im Prinzip auch die Besatzung Finnlands durch Schweden meinen, den Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden oder den Dolomitenkrieg. Könnten Sie meinen, meinen Sie aber nicht. Dazu müßte es die Kriege nämlich erstmal geben, was es nicht tut, und dann müßten diese auch noch die Zertifizierung als Eroberungskriege hinter sich bringen, wofür es in keinem der drei Fällen eine Erfolgsgarantie geben würde. Also, Sie meinen die Ukraine. Vermutlich meinen Sie die Krim gleich mit, ohne sich vom Unterschied zwischen Annektion und Krieg groß ausbremsen zu lassen. Wenn aber in der Ukraine heute ein Eroberungskrieg geführt wird, was war dann die Landung in der Schweinebucht? Was sollte denn da erobert werden, was einem nicht – nach Vorstellung der Eroberer – zuvor bereits gehört hätte? Die Sowjetunion? Ich frage Sie, als den systemisch denkenden, historisch gebildeten Klugscheißer, der Sie damals gewesen sein wollen. Und wenn ein Lübke damals dem Kampfhund Batista das Bundesverdienstkreuz an die Diktatorenbrust heften konnte, ohne ihn wenigstens ordentlich mit der Nadel zu pieken, wieso dann ein Gauck nicht dem Janukowytsch?

Chor der Alten:
Weil es nicht auf den Köter ankommt, sondern auf den, auf den er horcht.

Ja, danke schön! Ganz recht. Drum half Adenauer Eisenhower, drum hilft Merkel Putin nicht. Aber Sie? Ein Mann einst des großen Chruschtschow? Des Organisators des Partisanenkampfs in der – jawollja – Ukraine? Der Sie praktisch am gleichen Tag geboren wurden, da jener Erster Sekretär des ZK der KPdSU zu sein sich anschickte? – Was haben Sie auf einmal gegen die Russen? – Es kann ja sein, und ist auch schon vorgekommen, daß man, wenn man einer Schönen nachsteigt, die man im jünglingshaften Überschwang idealisiert, wie Sie – und nicht nur Sie – seinerzeit der Sowjetunion, der Freundin aller Unterdrückten, sofern sie von den Richtigen – also den Falschen – unterdrückt wurden und idealerweise in Raketenreichweite der USA wohnten und ein bißchen was Platz hatten, wo man Atomsprengköpfe gefechtsbereit machen konnte, um den Konkurrenten zu nerven und zu provozieren, vorzugsweise idyllisch gelegen: „Vom Vollmond über Havanna der Schönen / im Schutz von Raketen aus Stahl“ (Degenhardt) – kann sein, daß man dabei unversehens von der Klippe fällt und sich eine blutige Nase holt. Das kann den Besten passieren.

Darf ich jetzt mal weitermachen? Das ist immer noch mein Kommentar.

Moment noch! Was man aber nicht kann, ist, die eigene Enttäuschung über die Erkenntnis, daß auch sie kein Engel ist, sondern von dieser Welt, und genauso stutenbissig wie die Nachbarin, klein- und zu diesem Zweck der Schönen übel nachzureden. Und man kann nicht sie für etwas tadeln, was man der Nachbarin nachsieht. Insbesondere dann nicht, wenn man sich mittlerweile mit der Nachbarin getröstet hat. Das ist schofel. Nämlich schäbig, lumpig, abscheulich, garstig, gemein, infam sowie ruchlos. Das tut man nicht! Das sollte man mit 61 langsam wissen.

62. Nein, 61.

Ich weiß, daß es jeder tut, aber schofel ist es trotzdem.

Chor der Alten:
Schofel! – Schäbig! – Lumpig! – Abscheulich! – Garstig! – Gemein! – Infam!

Sowie ruchlos. – Soviel dazu. Jetzt können Sie mit Ihrem Kommentar weiter machen.

Terrorismus? Ein Problem, das man inzwischen im Griff hatte.

Was hatte man? Den Terrorismus im Griff?? 1983???

Chor der Alten:
Die Herren Zimmermann, Beckurts, Groppler, von Braunmühl, Herrhausen und Rohwedder sowie drei kulturlose US-Soldaten werden es mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, daß diese Nachricht sie zu Lebzeiten nicht mehr erreichte.

Wenn wir uns mal nur auf den Terror der RAF beschränken wollen, was wir aber nicht wollen. Greifen wir nur hinein ins volle Menschenleben, und wo wir es zu packen kriegen, da ist es interessant: Bologna, 1980. Da waren Sie 27.

Chor der Alten:
85 Tote, 1 kaputter Bahnhof. Unser Dank geht an die italienischen Faschisten.

Und in der anderen Faust? Oktoberfest, ebenfalls 1980.

Chor der Alten:
13 Tote, 68 Schwerverletzte. Wem wir dafür zu danken haben, ist zur Stunde nicht bekannt.

Wer immer dahinter steckte: hatten Sie damals das Gefühl, „man“ habe das Problem Terrorismus „inzwischen im Griff“? Hatten Sie denn auch den Eindruck, die Titanic habe den Eisberg jederzeit im Griff gehabt? Und haben Sie sich mal untersuchen lassen?

Islamisten, Kalifate, Dschihad – wie bitte? Darüber hat Karl May Romane geschrieben, stimmt’s?

Nein. Stimmt auch nicht. Dschihad kommt bei Karl May nicht vor, Islamisten auch nicht. Ich bitte, es gibt bei Karl May ja auch kein Fracking. Nicht einmal im ‚Ölprinz‘. Dabei würde der Ölprinz bestimmt nichts gegen Fracking gehabt haben, der olle Bandit! Und was das Kalifat angeht, so empfehle ich zu Informationszwecken das Buch Mecki bei Harun al Raschid oder den Comic Isnogud, aber nicht gerade Karl May. Sehr schön ist auch der Zeichentrickfilm ‚Kalif Storch‘, den ich einmal in der Kinderfilmstunde gesehen habe, zusammen mit schwarz-weißen Mickymausfilmen und Zweiaktern von Chaplin aus der Mutual-Zeit. Die gab es bei uns einmal pro Woche in der Aula der Martin-Luther-Schule und kostete drei Groschen Eintritt, subventioniert vom Kulturamt der Stadt, oder vom Jugendamt, die Martin-Luther-Schule lag in keinem besonders wohlhabenden Stadtviertel, und „Der Ölprinz“ kostete im Odeon schon 1 Mark 80. War so. Es war eine sozialdemokratisch regierte Stadt. Der Spitzensteuersatz lag bei 53%. Es gab alles Mögliche: Vorlesestunden, Malstunden und leider auch Flötenstunden – ja bitte?

Dieses Land gibt es nicht mehr.

Nein. Das stimmt. Dieses Land gibt es nicht mehr.

Klar, man kann auch eine Gegenrechnung aufmachen.

Oder eine korrigierte Gegenrechnung.

Der medizinische Fortschritt,

Chor der Alten:
Die Gesundheitsreformen 1976 bis 1983. – 1989. – 2003, 2004, 2007. – 2011. – Multiresistente Krankenhauskeime. – Multiresistente Konzerne. – Die Helios-Gruppe.

das Internet,

Tagesspiegel Online.

die deutsche Einheit,

Chor der Alten:
Prenzlauer Berg. – Friedrichshain. – Latte Macchiato Mütter. – Latte Macchiato. – Mütter. – Kinder. – Starbucks. – Systemgastronomie. – Steuerflucht. – Irland. – Luxemburg. – Juncker. – Merkel. – Gauck. – Deutsche Einheit.

saubere Flüsse,

Chor der Alten:
Vollgepißte Flußufer. – Freiluftsaufen. – Bar 25. – Bar 26. – Bar 27. – Dauerparty. – Partytouristen. – Fluggastzahlen. – Billigflüge. – BER. – Mehdorn. – Stuttgart 21. – Mappus. – Kretschmann. – Schwaben. – Prenzlauer Berg. –

alles prima.

Chor der Alten:
– Friedrichshain. – Kreuzberg. – Neukölln. – Gentrifizierung. –

Schschschscht! – Was ist denn daran wohl prima? Und wieso gleich alles?

Aber unter dem Strich muss man wohl sagen, dass die Sicherheiten weg sind.

Wieso muß man das sagen? Und unter welchem Strich muß man das sagen? Wieso muß man unter einem Strich etwas sagen? Wer sagt das? – Man könnte vielleicht sagen: „Unter dem Strich, so muß man wohl sagen, kommt heraus, daß die Sicherheiten weg sind.“ Das könnte man sagen. Aber warum sollte man das sagen? Welche Sicherheiten denn überhaupt?

Der Euro, der Frieden, der Job, die Wirtschaft, die Renten und die Ersparnisse, alles ziemlich wacklig. Überall Crashgefahr. Überall Baustellen. Ich glaube nicht, dass ich zu Hysterie neige, aber manchmal wird mir mulmig.

Das ist das Alter. Doch, doch. Keine Frage. Mir wird auch manchmal mulmig. Aber ich neige nicht zur Hysterie. Das weiß ich. Da brauche ich gar kein „ich glaube“ davor zu setzen. Wenn man in 60 Jahren kein einziges Mal hysterisch geworden ist, darf man sicher sein, nicht zur Hysterie zu neigen. Glaube ich wenigstens.

Wenn ich 30 wäre, dann wäre mir noch ein bisschen mulmiger.

Eben nicht! Als Dreißigjähriger hat man ganz andere Interessen. Ich bin als junger Mann mal von einer Klippe gefallen, beim Klettern, an der irischen Küste war’s, und habe mir die Lunge geprellt. War mir da etwa mulmig? Da war mir nicht mulmig. Gemopst habe ich mich, weil ich abends nicht mit in den Pub konnte. Aber es ging nicht, ich kam nicht von der Luftmatratze hoch. Aber mulmig war mir nicht. Letztes Jahr dagegen bin ich aus dem Kirschbaum gefallen, mitsamt der Leiter. Erst ich die Leiter runter und lang hingeschlagen, und dann die Leiter, auch lang hingeschlagen. Und als ich mich aufgerappelt hatte, war mein Zahnersatz weg. Da war mir mulmig.

Chor der Alten:
Aua! – Und, wiedergefunden? – Oder kaputt?

Wiedergefunden. Am andern Tag. Nicht weit vom Stamm. Was ich sagen will: das ist das Alter. An dem Abend hätten mich nämlich keine zehn Pferde in den Pub gekriegt. Nicht, daß ich nicht gekonnt hätte, aber ich habe nicht gewollt. Das ist das Alter.

Wir sind unglaublich gelassen. Worüber regt das Land sich auf? Über den Stinkefinger von Varoufakis. Über diesen Sänger, der nicht beim Eurovision Song Contest antreten wollte – wie heißt er noch gleich?

Was ist denn daran unglaublich? Und was ist daran gelassen, sich über solchen Käse aufzuregen? Und worüber sollte das Land sich denn aufregen?

Die Probleme werden größer, die Themen werden kleiner. In einer Hinsicht haben es die 30-Jährigen natürlich besser.

Und zwar in welcher?

Chor der Alten:
Sie können keinen Zahnersatz verlieren.

Einige von ihnen erben später mal stattliche Vermögen.

Chor der Alten:
Nachtigall, wir hörn dir trapsen!

Einige von uns auch. Ein bißchen früher vielleicht, aber deswegen nicht weniger. Einige von uns haben sogar noch in Super-Währung geerbt. – Wieso haben es die 30-Jährigen da besser?

Glückwunsch! Ich bin nicht neidisch. Manche erben viel, andere wenig, das ist im Einzelfall vielleicht ungerecht, wie das Leben im Allgemeinen nicht dazu tendiert, gerecht zu sein.

Manche erben auch gar nichts. Andere einen Haufen Schulden. Herzlichen Glückwunsch auch denen! Sie werden arbeiten müssen, wenn sie essen wollen. Oder irgendwo wohnen. Das trifft sich nicht schlecht, denn die, die das Vermögen erben, sind darauf angewiesen, daß andere arbeiten. Widrigenfalls sie es selbst müßten. Was man ja niemandem wünschen will. – So aber ist für alle gesorgt.

Aber wenn man es im Generationenmaßstab betrachtet, ist es in Ordnung.

Sag ich doch. Und deswegen will ich jetzt endlich wissen, worüber sich die Gesellschaft denn eigentlich aufregen soll, das weiß ich nämlich immer noch nicht!

Ihr werdet das Geld brauchen, immerhin habt ihr, neben all dem anderen Ärger, auch noch diese Massen an zukünftigen Rentnern am Bein, meine Generation, die ihr durchfüttern müsst.

Chor der Alten:
Das ist doch Killefit, was er da erzählt! – Ach was! Was du nicht sagst. – Wieso brauchen denn die Jungen das Geld, wenn wir gefüttert werden wollen? Wieso brauchen die das Geld? Wir brauchen das Geld! – Was regst du dich denn so auf? – Immer dieser Quatsch, daß die Rentner gefüttert werden müssen! Wer hat den unsere Eltern gefüttert? – Ist ja gut, ist ja gut! – Alles andere, was er erzählt, hat doch auch schon nicht gestimmt. – Wir! Wir haben sie gefüttert! – Wieso soll dann ausgerechnet das jetzt stimmen? – Stimmt. – Nein! Stimmt nicht! Das Futter haben doch nicht wir bezahlt, das haben doch unsere Eltern bezahlt!

Darf ich den Chor zu etwas weniger kakophonischer Darbietung mahnen? Wir sind noch nicht ganz am Ende:

Jetzt höre ich, dass eine kräftige Erhöhung der Erbschaftsteuer in Arbeit ist. Na ja, wenn der Crash kommt, ist sowieso alles futsch.

Chor der Alten:
Was? Was? – Hab ich das richtig gehört? – Erbschaftssteuer? – Lausejunge! – Rotzlöffel! – Sagt mal, wo ist eigentlich unser Spucknapf? – Keine Ahnung. – Ich will nicht, daß unser Spucknapf wegkommt. Wenn einer den Spucknapf wegnimmt, dann soll er ihn gefälligst wieder dahin stellen, wo er ihn weggenommen hat. – Was kuckst du mich so an, ich habe den Spucknapf nicht. Leider! – Da braucht man einmal seinen Spucknapf – einmal -, da ist er nicht da. – Frag ihn mal, ob er ihn hat. – Er? Der junge Hüpfer? Was will er mit einem Spucknapf?

Bitte vielmals um Entschuldigung. Ich borgte mir den Spucknapf. Als ich diesen Gedankenrotz las, bedurfte ich seiner. Es würgte mich. – Fällt dem Kerl im Rückblick auf seine Jugend nichts anderes ein, als daß er mit seiner Kohle „überall der King“ war. Und das Thema Weltuntergang findet bei ihm seine Metapher nur allzu natürlicherweise in einer Erhöhung der Erbschaftssteuer. – Und mit sowas teilt man nun die Alterskohorte!

Pfui Deibel.

Chor der Alten:
Was meint er mit Gedankenrotz? Wieso Gedanken?

Darf ich den Chor dann um den Schlußchoral bitten?

Chor der Alten:
Deutschmark wech / Erbe wech
Das ist schlecht / Und nicht recht
O du lieber Martenstein / Alles ist futsch

Martenstein / Martenstein
Leg nur ins / Grab dich rein
O du lieber Martenstein / Alles ist futsch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.


zwei + = 6

Navigation