Vom Älterwerden

„Nonsens in seiner reinsten Form“

Harold Morton Stein wird älter. Das kann er nicht unkolumniert lassen, und das wird er nicht unkolumniert lassen. Da hätte das Alter eben besser aufpassen müssen, mit wem es sich anlegt.

Je älter ich werde, desto klüger scheine ich zu werden. Ich weiß nicht, woran das liegt. Es könnte an mir liegen, gewiß, aber das muß nicht sein.

Es könnte auch an den anderen liegen. Nicht, daß jene immer dümmer würden, auch das muß nicht sein. Aber es könnte sein, daß die Klugen starben. Das wäre ein ganz natürlicher Vorgang. Als ich 1953 auf die Welt kam, war ich sicherlich einer der Klügsten meines Jahrganges, das schon, aber der Jahrgang als solcher war noch nicht sehr reif. Er war ja noch jung. Die anderen Jahrgänge waren älter und damit auch viel klüger als wir. Auch als ich.

Aber dann fingen sie an zu sterben. Zunächst die, die noch im 19. Jahrhundert geboren worden waren, dann nach und nach auch die Nachgeborenen. Und alle Klugheit, die sie im Leben angehäuft hatten, ging mit ihnen dahin. 2 1/2 Milliarden waren wir damals; und für einen ganz kleinen Moment war ich der jüngste von allen. Heute bin ich das nicht mehr, denn bei einer weltweiten Sterberate von 7,89 ist die knappe Hälfte von denen mittlerweile tot, aber an die 6 Milliarden sind nach mir geboren. Woraus folgt, daß sie alle dümmer sind als wir, als ich zumal, und wir, das altersweise Siebtel der Menschheit, wird ganz von selbst immer klüger. Manchmal, vor dem Spiegel, erwische ich mich dabei, wie ich mit leiser Stimme ‚Herr Senator‘ sage. Dann werde ich ein bißchen rot und muß mich räuspern.

Denn mit der Klugheit – oder sagen wir: dem geistigen Reichtum -, wie auch mit ihrer Schwester, der geistigen Armut, ist es wie mit Armut und Reichtum überhaupt: eine Sache der Statistik. In einer idealen Welt, in der der Scheitel der IQ-Glockenkurve bei einer satten Million läge, in ihr läge die Geistesarmutsrisikoschwelle bei ca. sechshunderttausend; und in einer solchen idealen Welt würde wahrscheinlich selbst ich zu den geistig Minderbemittelten zählen, aber das ist ja purer Statistikquatsch. Nonsens in seiner reinsten Form. Ein solches Land gibt es ja gar nicht. Genausowenig, wie es ein Land gibt, in dem die Menschen ein Durchschnittsnettoeinkommen von einer Million Euro hätten, und die Armutsrisikoschwelle demnach bei 600 000,- Euro, nämlich 60% davon, läge. Was für ein Blödsinn! Selbst in Katar liegt das Bruttoinlandsprodukt bei unter hunderttausend Euro pro Nase. Katar! Das reichste Land der Welt! Hunderttausend Euro! Nicht mal hunderttausend Euro! Da liege ich ja schon drüber.

Aber so geht es, wenn man die Statistiker machen läßt. Denn was folgt daraus, daß es ein solches Land überhaupt nicht gibt? Wenn man sich das mal in aller Ruhe durch den graugewordenen Kopf gehen läßt? Und so klug ist wie ich?

Ich will nicht sagen, daß daraus notwendigerweise folgt, daß es bei uns gar keine Armut gäbe. Die gibt es wahrscheinlich schon irgendwo. Aber man kann sie nicht so bürokratisch herbeidefinieren, wie es der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband macht. Wir sind ein sehr reiches Land. Anderswo geht es sehr viel ärmlicher zu. Das ist wie mit der Überbevölkerung: global gesehen gibt es natürlich Überbevölkerung. Niemand streitet das ab. Manchenorts wohnen Millionen Menschen in völlig strukturlosen Agglomerationen ohne jede Infrastruktur! Daß es in solchen Gegenden zu Armut kommt, liegt auf der Hand.

Aber doch nicht in Brandenburg. Brandenburg ist nicht übervölkert. Und Deutschland ist nicht arm. Nehmen sie nur meine beiden Zwillinge – ich habe ja spät noch zu mir selbst gesagt: „Wo 5 Milliarden jünger sind als du, da ist auch Platz für noch einen von der Sorte,“ und wie es dann soweit war, da waren es auf einmal zwei – wie auch immer, die beiden gehen jetzt zur Uni, und ich zahle ihnen monatlich 891 Euro pro Nase, was knapp unter besagten 60% liegt, weshalb die beiden aus Sicht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands auch als arm gelten. Ich bin ja fast vom Hocker gefallen, als ich das las. Das heißt, genaugenommen bin ich nicht vom Hocker gefallen. Leute fallen selten vom Hocker. Ich bin überhaupt noch nie vom Hocker gefallen. Das ist nur so eine lose Redewendung, wie wenn die Leute sagen: „Mich traf ja fast der Schlag!“ Da kann man sicher sein, daß so einer noch nie vom Schlag getroffen wurde, und auch nicht weiß, wie es sich anfühlt, fast vom Schlag getroffen zu werden. Woher will er das wissen? Das ist ja was anderes, als wenn man vom Bus gestreift wird. Den Bus kann man kommen sehen. Den Schlag kann einer nicht sehen; wenn er mitkriegt, daß er da ist, dann hat er ihn auch schon getroffen.

Ich bin, als ich das las, einfach nur in meinem Lieblingssessel eingenickt, wie es mir in den letzten Jahren häufiger passiert, wenn ich die FAZ lese. Und wenn ich im Traum aufwache, und die Beine vom Hocker nehme und den Fuß auf den Boden stellen will, dann ist manchmal kein Fußboden da, und ich falle hin und will mich mit den Händen abstützen und dann ist da gar nichts, gegen das ich mich stützen könnte, weil ich ja noch dusele und im Sessel liege, und über dem Sessel ist bloß Luft, aber kein Fußboden. Ein blödes Gefühl. Dann bin ich natürlich wach, und wenn dann eine der beiden vor mir steht und sagt, sie hat für diesen Monat noch kein Geld gekriegt, dann kann es passieren, daß sie mich reinlegen. Weil ich sie nicht auseinanderhalten kann und nicht mehr weiß, welche ihr Geld schon gekriegt hat und welche nicht, und dann kommt die andere und sagt, sie ist die eine – und selbst, wenn sie sich die Beute teilen: in solchen Monaten gelten sie dann nicht als arm. Nicht einmal für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband. Woran man schon sieht, was das für ein Trottelverband ist.

Mir ist natürlich klar, daß nicht jeder Vater allen seinen Töchtern 891 Euro im Monat geben kann, mancher hat vielleicht nur 890 übrig. Oder noch weniger. Aber das muß ja nicht notwendigerweise heißen, daß er arm ist. Mit 1780 Euro im Monat ist man nicht arm. Sowenig wie man reich ist, bloß weil man zwei Töchter und trotzdem noch was übrig hat. Vielleicht hat er zuviele Töchter? Braucht er sie wirklich alle? Gibt es nicht schon genug Menschen auf der Welt?

Außerdem kommt es immer auf den Einzelfall an. Armut ist ein Phänomen, das ganzheitlich betrachtet werden will. Wenn einer eine große Wohnung hat, können die Töchter vielleicht von zuhause aus studieren. Ich persönlich allerdings schreibe lieber eine Kolumne im Monat mehr und finanziere den beiden davon die Studentenbude, als daß ich sie hier bei mir habe.

Brandenburg ist zwar groß, aber nicht so groß.

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