Life without parole

The first thing I remembered knowing
Was a lonesome whistle blowing
Merle Haggard

Irgendein Uni-Fest an irgendeiner Uni zu irgendeiner völlig zurecht vergangenen Zeit:

An irgendeinem Stand haben irgendwelche „Linken“ – also irgendwelche Studenten (heute wären es „Studierende“, aber dafür wären sie auch nicht mehr „links“) – in parodistischer Absicht einen in jener zurecht vergangenen Zeit recht verbreiteten Kirmeskappes – ein „Liebesbarometer“ – aufgestellt, und so umfunktioniert, daß man mit seiner Hilfe sein korrektes – also revolutionäres – Bewußtsein messen lassen kann. Noch gab es keine Algorithmen, die dergleichen aus irgendwelchen biometrischen oder sonstigen Daten herbeirechneten; der Anspruch dieser Automaten war bescheiden: man mußte seine Patschhändchen aufs Blech legen und irgendwelche Münzen einwerfen, und dann log der Apparat frisch drauflos. Auch jenes Bewußtseinsbarometer log; das heißt: lügen tat nur die Anzeigesäule, die willkürlich bis irgendwohin oder irgendwo anders hin kletterte und dann stehen blieb. Die Skala selbst, die auf das Konto der Studenten ging, sprach die lautere Wahrheit, jedenfalls über das, was in deren Rumsmurmeln so alles drüber und drunter ging. Denn wo beim Liebesbarometer der Skaleneintrag „Mamas Liebling“ lautete, da stand beim „linken“ Bewußtseinsbarometer „Country-Fan“.

Wahrhaftig: „Country-Fan“. Ich glaube, drüber – oder drunter – ging nur noch „Faschist“. Wahrlich: ganz, ganz oben auf der Skala meines persönlichen Zornbarometers steht: „Was ich den 68ern, welche Verdienste sie auch immer für sich reklamieren mögen oder dürfen, und welche ihnen andererseits um die Ohren gehauen gehören – was ich ihnen wirklich, wirklich übelnehme, das ist die Verachtung Johnny Cashs.“

Zugegeben: 44 Jahre später ist das nicht mehr so. Die 68er, sie sind geläutert. Johnny Cash ist lang schon rehabilitiert. Man kann die Vorliebe für Country und die für Kommunismus miteinander kombinieren (Harry Rowohlt sei – nicht nur dafür – Dank). Und warum wohl auch nicht? Leute – und es sind dies nicht die schlechtesten – sind geboren worden in einem Jahr, in dem nicht nur Hank Williams und Joseph Stalin starben, sondern alle beide. Sowas prägt. Wenn das nicht prägt, was soll dann prägen? – Aber: hat man dafür 48 Jahre älter werden müssen!? Und was für Jahre!

Und dann, kaum ist es so weit, und man darf endlich, stirbt einem Merle Haggard.

Aber bevor ich sentimental werde, und wo ich mich gerade so schön aufgeregt habe: die geläuterten 68er – geh’n Sie mir weg mit den geläuterten 68ern! Die sind ja noch viel schlimmer! Wahrhaftig, ich könnte Namen nennen! Ich werde auch Namen nennen, zumindest behalte ich es mir vor, Namen zu nennen; allerdings nicht in diesem Nachruf. Das wäre pietätlos. Dies ist ein Nachruf. Zwar werde ich auch in diesem Nachruf Namen nennen, außer den schon genannten, aber das werden Namen sein wie: George Martin, Naná Vasconcelos, Keith Emerson, Boulez, Harnoncourt, Hein Kröher, Paul Bley, Paul Kantner und der Dings, der Bowie. Was eint diese? Es ist die Ernte des Schnitters. Die reiche Ernte eines noch jungen Jahres. Und das sind noch gar nicht mal alle, das sind nur die, die mir vom Plattenteller weggestorben sind, da sind die, die mir nie auf den Plattenteller gekommen sind – und auch nicht kämen: ein Herr Delpech, ein Herr Frey und ein Herr Dings, na, Bowie -, noch gar nicht dabei. Da sind die nicht dabei, die mir aus dem Bücherregal starben, die Eco und Lee und Gustafsson und Kertész, und die, die aus dem Fernseher geholt wurden, sind auch nicht dabei. Zu schweigen von den namenlosen Seniorenheimern, die sich der Gevatter hier wöchentlich holen, beziehungsweise bringen läßt: denen singt niemand nach. Niemand steht am Gitter. Gibt auch keine Gitter. Steht aber auch niemand in der Tür. Gibt aber Türen. Man schweigt den Tod aus dem Haus. – Das Pietätvollste ist noch die Limousine auf dem Wendehammer, die wird wenigstens regelmäßig gewaschen. Drinnen dagegen – na gut, gewaschen werden die Toten auch. Dann kommt Pietät Grimrieper und nimmt sie mit.

Dann wird als erstes das Namensschild von der Zimmertür entfernt. Sie nehmen es dort mit der Namenlosigkeit sehr genau. Der – gleichfalls – namenlose Todeskandidat, den Merle Haggard durch den Todestrakt führen läßt, seinem Schicksal entgegen, der lebt – welch paradoxe Folge der Todesstrafe! – sozusagen heute noch.

Wir anderen haben bloß lebenslänglich.

Und was die Frage angeht: „Soll das jetzt eigentlich in diesem Tempo weitergehen?“ – die ist wohl mit „Das wird es wohl noch eine Weile tun“ zu beantworten. Das heißt: Das Tempo ist eigentlich immer dasselbe. Es sind die Namen – bei Namen von Weggefährten und Zeitgenossen nimmt man die Einschläge nur schärfer wahr. Es sind das ja keine glatten Durchschüsse. Ein Geschoß, in das der Name eines Freundes graviert ist, reißt einem ein viel größeres Loch in den Pelz. Noch leben so viele, daß die Frequenz durchaus noch zunehmen kann. Manchmal wundere ich mich, wie viele es noch sind, und denke: „O je, die werden alle vor dir sterben, wenn du Pech hast.“ Dann wieder wundere ich mich, wer schon alles gestorben ist, ohne daß ich es mitgekriegt hätte, weil ich mal wieder nicht aufgepaßt habe. Dann ärgere mich, weil ich mal wieder nicht aufgepaßt habe. Irgendwann wird meine Aufmerksamkeit schließlich ganz von selbst abnehmen, wenn Grimrieper sie erst alle mitgenommen haben wird, und ich von den Nachrückern keinen mehr kenne und mich auch für deren keinen interessiere, weil ich mich ohnehin für nichts mehr interessiere. Dann wird es immer noch früh genug sein für Unaufmerksamkeit.

Aber vielleicht hat man ja auch Glück und wird vorzeitig entlassen, wie so viele unserer Seniorenheimer. Zurück in eine Welt, in der man noch mit 21 volljährig wird. In der die Zechenbahnen noch Gleisbetten haben und nicht zu Fahrradwegen verkommen sind, in der sich echter Ruß auf gelbe Knorpelkirschen legt, und empörte Lokomotiven Kaulquappen fischende Kinder mit Pfiffen aus den Wassergräben zu jagen suchen. – Dort kann man Nachmittage verbringen, Mut proben, Schienen horchen, Schotter greifen, Böschungsbrand schnuppern, Brückengeländer schmecken. Und Ängste tauschen: Was das denn sei, der Tod? Und wie Sterben geht?

Nun bin ich doch wieder sentimental geworden. – Also schnell nochmal zurück zu den falschen 68ern, daß einem wieder anders wird. Wie Oscar Wilde gesagt haben würde: „Es gibt nur eins auf der Welt, das schlimmer ist, als ein 68er zu sein, und das ist, kein 68er zu sein.“ – Nicht schlecht gebrüllt, Oscar, aber falsch: es gibt noch etwas, daß schlimmer ist, und etwas, das noch schlimmer ist. Sagen wir doch so: Es gibt etwas, das schlimmer ist, als ein Falscher Fuffziger zu sein.

Belassen wir es dabei. – Auf meinem inneren Bewußtseinsbarometer jedenfalls stehen die falschen 68er ganz unten. Oder ganz oben – ich hab vergessen, welches das gute Ende ist. Ich habe auch vergessen, was beim Liebesbarometer oben und was unten war. Irgendwo stand „Schwerenöter“. Ist das gut? Ist das schlecht? Hab ich das nicht vollkommen zurecht vergessen? Ist es nicht früh genug, mich daran zu erinnern, wenn ich dement sein werde? Wie so viele unserer Seniorenheimer?

Gleichviel: am anderen Ende meines Barometers, am guten Ende, steht der geläuterte „Okie from Muskogee“, der wahre 68er, der erfolgreich mitgeholfen hat, dafür zu sorgen, daß jenes Jahr kein ganz und gar verlorenes wurde.

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