Die Mutter: | Er mag damals so um die fünf gewesen sein. Wir hatten ihm zum Geburtstag so eine Autogarage geschenkt, so ein mehrstöckiges Spielzeug mit einem kleinen Aufzug an der Seite, und eine Reihe von Matchbos-Autos, und hatten gedacht, daß ihm das Freude machen würde.
Aber er spielte nicht damit. Er machte sich nichts aus Autos. Statt dessen holte er sich trotz Verbots immer wieder das Handelsblatt aus dem Arbeitszimmer meines Mannes, und durchsuchte es nach ‚Stellen‘. Und dann, eines Tages, kam ich dazu, wie er im Spielzimmer auf dem Fußboden saß, ganz versunken, die Hand in der Hose, sah nichts, hörte nichts, das Handelsblatt vor sich, und wie er sich … wie er sich (schluchzt) … wie er ganz versunken in die Börsennachrichten starrte und sich die kleine Steuer senkte. Mit fünf Jahren! |
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Der Vater: | Wir haben uns natürlich gefragt, ob es nur uns so geht, und ob wir Schuld an diesem unnatürlichen Verhalten sind. Das ist ja unvermeidbar.
Aber in der Selbsthilfegruppe wollte niemand etwas mit uns zu tun haben, als wir erzählten, daß sein erstes Wort ‚Fteuefenkung‘ war. Noch vor ‚Mama‘. Noch vor ‚Wauwau‘. Fteuefenkung! Mit nicht ganz 12 Monaten. |
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1. Schulkamerad: | Er kannte überhaupt nur ein Spiel, und das war Steuersenkung. Ganz egal, wo man sich begegnete. Auf dem Schulhof – wir anderen spielten Autoquartett, oder Flugzeugquartett oder was auch immer, eins von diesen Jungensspielen halt, aber ihn braucht man nicht zu fragen. Er interessierte sich nicht für PS, nicht für Schubkraft, nicht für Spannweiten.
Alles, worüber man mit ihm hätte reden können, wäre Steuersenkung gewesen. Und alles was recht ist, als 11jähriger hat man dafür noch kein so ausgeprägtes Interesse, oder? |
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2. Schulkamerad: | Er stand meistens allein an der Aschenbahn, die damals noch den Schulhof nach Osten begrenzte. Stand nur da und machte gar nichts.
Manchmal hatte er eine Zeitung dabei – Handelsblatt? Kann sein, Handelsblatt kann sein. Und wenn er lange genug hineingestarrt hatte, rannte er plötzlich los und konnte nicht schnell genug aufs Schulklo kommen. Hat man sich als 11jähriger natürlich auch erstmal nichts bei gedacht. Außer, daß man vom Handelsblattlesen anscheinend den Flotten kriegt. |
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1. Schulkamerad: | Und sich nachmittags mit ihm treffen ging irgendwie auch nicht. Kicken wollte er nicht. Fahrradfahren wollte er nicht. Sich kloppen wollte er nicht.
Einmal sind wir zusammen zum Kaulquappen Fangen gegangen, Interesse dafür hatte er aber auch nicht. Statt dessen fragt er mich, wie wir allein am Teich sind, ob ich mal seine Steuersenkung sehen will. Ich hab ihn nur angekuckt und gefragt, ob er schon mal eine Kaulquappe verschluckt hat? Konnte er gleich haben. Auch zwei. Das wär ganz fix gegangen. Und wenn er das nicht wollte, sollte er machen, daß er Land gewinnt. |
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Das Tanzstundendate: | Ich habe mich mal – einmal – mit ihm ins Kino verabredet. Und anschließend haben wir vom McDonalds Drive-In zwei Milkshakes geholt.
Was ich komisch fand war, daß er überhaupt nicht versuchte zu fummeln, oder so. Weder im Kino, noch nachher im Auto. Nicht, daß ich das gewollt hätte, ich fand es nur komisch. War ok, aber hat mich ganz schön verunsichert. Und dann, beim Nachhausebringen, bei meinen Eltern vor der Haustür, da fragt er mich plötzlich, ob ich ihm die Steuern senken würde. Und ich, was hier, mitten auf der Straße, wo jederzeit ein Nachbar vorbeikommen kann? Ich meine, wenn er scharf auf mich war, warum sagt er das nicht eher, im Kino oder wo, es war doch Gelegenheit genug. Natürlich hab ich ihm die Steuern nicht gesenkt! Was bildet der Kerl sich ein? |
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Der Lehrer: | Er war etwas – na, sagen wir mal – monothematisch, was sein Interessenspektrum anging. Normalerweise hat der durchschnittliche Heranwachsende die üblichen Interessen der Jahrgangsstufe, und die von der jeweiligen Peer-Group vorgegebenen. Und zusätzlich dann noch zweidrei – oder mehr – Spezialgebiete, an denen das Interesse über die Jahre hin stabil bleibt oder zunimmt.
Nichts davon bei ihm. In den Jahren, in denen Sie und ich die Weltrevolution verangetrieben haben, Linksaußen werden wollten, einem gewissen Jemand Sonettenkränze wanden, die Fermatsche Vermutung beweisen, Boris Spasski herausfordern und die schnellste Nürburgringrunde aller Zeiten fahren wollten, in dieser Zeit kannte er überhaupt nur ein Thema. Unvergeßlich wird mir sein Beitrag im Sozialkundeunterricht bleiben, mit dem er uns erklären wollte, das Gleichnis vom „Scherflein der Witwe“ sei eine Allegorie für die Ungerechtigkeit unseres Steuersystems, indem nämlich die Witwe beim Lohnsteuerjahresausgleich „Alles“ zurückbekomme, die Reichen aber nur „einen Teil ihrer Steuern“. Anschließend fragte er, ob er mal rauskönne. Das schien sein anderes Hobby zu sein. |
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Die Mitbewohnerin: | Er war ganz manierlich, jedenfalls hier in der WG. Was Sauberkeit, Kühlschrank, Müll, Herd usw. angeht, meine ich. Was ich auf den Tod nicht ausstehen kann ist, wenn die Kerle für Stunden mit ner Zeitung das Klo blockieren, aber das machten die anderen schließlich auch, insofern ist das nicht besonders hervorzuheben.
Bloß, wo die anderen normalerweise den Spiegel oder den Stern mit auf den Lokus nahmen, oder schon mal den Playboy vergaßen oder mit Absicht da liegen ließen, da lag bei ihm immer das Handelsblatt zuoberst auf dem Stapel. Ich hab ein-, zweimal drin geblättert, kann damit aber nichts anfangen. Die Zeitung können Sie mir auf den Bauch binden, da geht bei mir gar nichts. Aber bei ihm war das wohl anders, wenn ich das Stöhnen, das auf dem Flur zu hören war, richtig deute. Steuersenkung? Ja, kann sein, daß das ‚Steuersenkung‘ heißen sollte, was er da stöhnte. Es war nicht sehr artikuliert. Kommt man ja aber auch nicht von selbst drauf. Je nun, die Welt ist bunt. |
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Der Kommilitone: | Der war schon eine ziemlich überspannte Nummer. Den hätten Sie im Hörsaal sehen sollen. Er saß immer soweit hinten, wie’s ging, und zog sich die drögsten Sachen rein. Internationales Steurrecht, Kotz. Bilaterales Steuerrecht, Brech. Doppelbesteuerungsabkommen mit Bangladesch, Würg.
Ich saß auch immer hinten. Aber nur, um mich leichter zum Doppelkopfspielen verdrücken zu können, wenn ich Gleichgesinnte fand. Ihn brauchte man nicht zu fragen. Doppelkopf war nicht sein Ding. Apropos sein Ding. Das hat mir eine gemeinsame Bekannte erzählt: wie sie einmal, Freitags 18 bis 20 Uhr – beliebter Termin bei Profs, die keinen Bock auf Studenten haben – in einer Vorlesung über Selbstfinanzierungseffeke bei Steuersenkungen, und wie so klein sie seien, und praktisch nicht nachweisbar, und umstritten zudem, und – so sagte die Bekannte – der Hörsaal sei praktisch leer gewesen, und er habe ganz hinten gesessen und ständig eine Hand unter dem Tisch gehabt, sei hin und her gerutscht, und plötzlich, als der Prof eine Steuersenkung auf dem Whiteboard skizziert habe, habe man aus der letzten Reihe ein Gurgeln und Röcheln vernommen, und der ganze Kerl sei unter die Bank gerutscht gewesen. Wo er dann gelegen habe, gleichsam im eigenen Saft, wie die Bekannte sich ausdrückte. |
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Die Hostess: | Daß einer kommt, der gar nicht angefaßt werden will, ist ganz normal. Daß einer masturbieren will, während ich ihm Händchen halte, ist auch normal. Und daß einer will, daß ich ihm kurz vorm Höhepunkt Schweinkram ins Ohr sage, damit er umso heftiger kommt, ist auch normal. Das wollen viele.
Diesen hier konnte ich mir nur merken, weil ich damals sein Buzzword vergessen hatte. Und wie ich ihm im bewußten Moment ins Ohr säusele, ‚Na, was muß ich denn da sehen?. Was machen denn die ungezogenen Fingerchen da?‘ da rastet er vollkommen aus. Er habe eine Steuersenkung haben wollen, keine Gagasprache, und ich hätte ihm nicht nur den Höhepunkt versaut, ich hätte seine Erektion auf dem Gewissen, und wahrscheinlich sei er jetzt sogar impotent. Weil er so einen Krach schlug, habe ich zurückgebrüllt, er solle sich nicht so anstellen, er sehe mir nicht aus wie einer, der Steuern bezahlen würde, er sei doch noch Student, wenn mich meine Menschenkenntnis nicht täuschte, und er lebe von den von mir gezahlten Steuern, was er denn da mit einer Steuersenkung wolle? Und hast du nicht gesehen, wie ich ‚Steuersenkung‘ brülle, kriegt er einen Ständer und stöhnt und macht weiter und kriegt sich gar nicht wieder ein. Später kam er noch öfter, zu Kolleginnen oder zu mir. Irgendwann hat er mir mal gesagt, niemand könne so verrucht ‚Stufentarif‘ sagen wie ich. |
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Die Ehefrau: | Ich ging, als es nicht mehr ging. Wenn es noch gegangen wäre, wäre ich nicht gegangen. Aber es ging nicht mehr.
Da hatte ich es sieben Jahre getragen. Sieben Jahre Demütigung, sieben Jahre betrogen werden, mit Nachbarinnen, Sekretärinnen, Freundinnen, Kolleginnen, Urlaubsbekanntschaften, Zufallsbekanntschaften, Dirnen, Straßenmädchen, Studentinnen, Schülerinnen, Babysitterinnen, Anhalterinnen, Parteifreundinnen, Polizistinnen, Zugbegleiterinnen, Busfahrerinnen, Taxifahrerinnen, Stewardessen, Pilotinnen, Politikerinnen, Pastorinnen, Postbotinnen, Kellnerinnen, Friseusen, Verkäuferinnen, Bademeisterinnen, Journalistinnen, Reporterinnen, Fernsehansagerinnen, Moderatorinnen, Floristinnen, Beamtinnen, Staatssekretärinnen, Innenausstatterinnen, Wäscherinnen, Büglerinnen, Visagistinnen, Nähterinnen, Wissenschaftlerinnen, Ingenieurinnen, Lehrerinnen, Rennfahrerinnen, Radfahrerinnen, Motorradfahrerinnen, Kranführerinnen, Betriebsrätinnen, Aufsichtsrätinnen, Ministerinnen, Marktweibern, Ehefrauen, Tänzerinnen, Tempelhuren, Sängerinnen, Schauspielerinnen, Gärtnerinnen, Müttern, Töchtern, Kindergärtnerinnen, Tagesmüttern, Nährmüttern, Wehmüttern, Hebammen, Zugehfrauen – das wäre ja noch gegangen. Das wäre nicht schön gewesen. Das würde weh getan haben. Aber das wäre doch wenigstens normal gewesen! Aber mit dem Handelsblatt!? Wenn es wenigstens noch die Financial Times gewesen wäre, mit ihren altjüngferlich-korsagenfarbenen Seiten! Aber so?! Da bin ich gegangen. – Es ging nicht mehr. |
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Der Analytiker: | Wir haben es bei den Freien Marktwirtschaftlern mit einer interessanten Verschiebung zu tun. Sie haben, meist als junge Männer, von Diogenes von Sinope gelesen und gehört, wie dieser auf dem Marktplatz masturbiert habe. Nun ist Masturbation für den jungen Mann einerseits sehr positiv besetzt, andererseits gibt es da das Masturbationsverbot, wodurch sie nicht verhindert, aber in die Nicht-Öffentlichkeit verbannt wird.
Dieses Verbot bricht der Akt des Diogenes nicht nur, er verkehrt es ins Gegenteil, stülpt es um, zieht es auf links, indem er die Nicht-Öffentlichkeit durch die gesteigerte Öffentlichkeit, den Markt(platz), ersetzt. Für den Jüngling, der es ihm gern gleich täte, aber sich nicht traut, ist in der Folge der ‚Markt‘ libidinös besetzt, und der ‚freie‘ Markt doppelt so, symbolisiert die Freiheit doch nicht die Übertretung des (Masturbations-)Verbotes, sondern dessen Aufhebung. |
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Käsdorfer Metropolitan: | Häh? Ein Fünfjähriger der von Diogenes gehört haben soll? Geht es denn wohl noch? | |
Der Analytiker: | Sie haben recht. Was ich sagte, gilt generell für Apologeten des Marktes und der Marktwirtschaft. Im von uns betrachteten Fall – da bin ich ganz bei Ihnen – scheint es sich allerdings doch eher um einen Fluch zu handeln. | |
Die dreizehnte Fee: | Jawohl, ja. Ein Fluch. Einer von meinen Flüchen. Ein Qualitätsfluch. Ich glaub es ja wohl. Hier zur Taufe bitten und mich nicht einladen? Ich wüßte es. Keine dreizehn Teller, keine dreizehn Teller! Ist das vielleicht ein Grund, mich nicht einzuladen? Und wieso mich? Hätte nicht eine von den anderen Bratzen zuhause bleiben können, wenn es denn schon sein muß? Ich brauch keinen goldenen Teller für um von zu essen!
Aber mit mir, glauben sie, können sie’s machen, ja? Glauben sie aber auch nur! Ich will euch was sagen: ich habe dem Kleenen auch was mitgebracht. Nee, Schönheit nicht, Tugend nicht, Reichtum auch nicht. Braucht er alles nicht. Weisheit braucht er auch keine. Neenee, von mir kriegt er was besseres. In seinem fünften Jahr soll ihm ein Handelsblatt in die Finger fallen, jawohl, in die Finger. Hähähähähä. Finger? Wixgriffel. Und die soll er hinfort nicht mehr stille halten können. |
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Die zwölfte Fee: | Ich habe getan was ich konnte, aber ich kann den Fluch nicht zurücknehmen. Ich konnte ihn nur abmildern.
Er wird also mit seiner Veranlagung leben müssen. Doch kann er seine Steuersenkung bekommen, wenn er sie unbedingt will. Nur wird an dem Tag, an dem er sie in die Arme schließt, etwas Anderes diese Welt verlassen müssen. Seine Manneskraft wird von ihm gehen. Es ist dies ist aber nicht mein Werk, ich sage es nur voraus. |
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