Nachtschwester Ingeborg

Das eigentlich Erschreckende an der Teewurstaffäre, sagt mein Nachbar, sei, daß er jetzt im Bewußtsein der Tatsache leben müsse, daß in der Stadt, die sich über Jahre damit dickegetan habe, seine, des Nachbarn, Wahlheimat zu sein, eine Seniorenresidenz stehe, in der die Seniorenheimer und Seniorenheimerinnen mit Teewurst gequält würden.

Zwar habe er gewußt, daß in Seniorenheimen nicht immer alles zum Besten bestellt sei, aber er habe sich immer damit zu trösten und zu entlasten versucht, daß er sich eingeredet habe, man werde die Genfer Konvention doch zumindest einhalten. Dabei habe er natürlich auch gewußt, daß es immer zwei Genfer Konventionen gebe, eine für den, der sich noch wehren könne, und eine für den, der Pflegern, Verwaltung und Heimbeirat hilflos ausgeliefert sei.

Wie man sich in einer solchen Lage fühle, wisse der nur zu gut, der als Siebenjähriger, aus einer Ohnmacht erwachend und das dringende Bedürfnis verspürend, sich an der frischen Blindarmnarbe zu kratzen, habe feststellen müssen, das man ihm Arme und Beine an die Bettpfosten gebunden hatte. Dem eine entmenschte Nachtschwester auf dessen Protest hin drei Dinge verabreicht habe, und zwar in dieser Reihenfolge: a) eine Ohrfeige, wegen Störens ihrer Nachtruhe, b) eine Schnabeltasse mit heißer Milch darin, gegen die er sich seiner Fesseln wegen nicht habe behaupten können, und gegen die ihm auch kein verbaler Protest möglich gewesen sei, da man ihm den Tassenschnabel in den Mund eingeführt und seine Stimmbänder mit dem widerwärtigen Sekret des Rindseuters geflutet habe, und c) kein Messer, mit dem er seine Fesseln hätte durchschneiden und sich vom Marterpfahl hätte befreien können.

Statt dessen habe er bis zum Tage in dieser demütigenden Position liegen bleiben müssen, und da die Nachtschwester, die das Tageslicht aus gutem Grund gescheut habe, entwichen sei, habe die Frühschicht ihm Teewurstbrote serviert, von allen greuelhaften Brotaufstrichen den drittgreuelhaftesten. Immerhin habe man ihm die Fesseln gelöst, so daß er die Brotschnitten habe vergelten lassen können, was die Nachtschwester ihm schuldig geblieben war: indem er sie zusammengeklappt und aus dem Krankenhausfenster geworfen hatte. Krähen hatten sich bald darauf um sie gezankt und sie über kurz davon getragen.

Die Rekonvaleszenz sei danach zügig vorangeschritten, wesentlich unterstützt durch des Patienten Bereitschaft, mit Autosuggestivmaßnahmen Motivation, Zuversicht und eine positive Grundeinstellung des Patienten zu fördern, wie es von führenden Medizinern empfohlen werde. Zu diesem Zweck hatte der Patient sich die zähen Krankenhausstunden angenehm und unterhaltsam gestaltet, mit Gesichten und Gedankengaukeleien, in denen er die Nachtschwester, seiner siebenjährigen Phantasie entsprechend, mit glühenden Bleischuhen tanzen ließ, ihren Bauch mit einer Schere öffnete, ihn mit Wackersteinen füllte und wieder zunähte, sie in Backöfen schubste und endlich splitternackt in ein Faß steckte, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen war, und sie von zwei weißen Pferden Gasse auf, Gasse ab zu Tode schleifen ließ.

Mittlerweile, nach all den Jahren, sei sein, des Nachbarn – denn um niemand anderen habe es sich bei dem kleinen Patienten gehandelt – mittlerweile sei sein Zorn auf die Nachtschwester aber verraucht; auch sei er selbst milder geworden, und habe die kindlichen Gewaltphantasien hinter sich gelassen. Er hoffe, daß die Nachtschwester glückliche Jahre habe erleben dürfen, Zufriedenheit im Beruf erfahren habe und sich guter Gesundheit erfreue. Nicht, daß sie etwa bei einem Schäferstündchen im Roggen eines Augusttages in den Mähdrescher geraten sei, oder bei einer herbstlichen Ballonfahrt aus großer Höhe in einen Bottich gefallen, in welchem Schweinedärme ausgekocht wurden. Auch möge sie nicht in einem Flugzeug zu Gast gewesen sein, das winters an einer Andenflanke strandete, allwo sie nach achttägiger Schamfrist von verzweifelt hungernden Mitpassagieren aufgegessen worden wäre. Wie Gott ihr auch erspart haben wolle, beim Frühlingsfest auf dem Schützenplatz im technisch versagenden Booster Maxx über Stunden hin Hals über Kopf zwischen Himmel und Erde geklemmt zu stecken, um daselbst endlich und elendiglich am eigenen Erbrochenen zu ersticken.

Denn die Gelegenheiten, in all den Jahren eines unzeitigen Todes gestorben zu sein, seien ja nicht gezählt. Zum Beispiel könnte sie, nur mal angenommen, bei einem Betriebsausflug in den Zoo, angetrunken und halb entkleidet in ein Gehege geklettert und dort vom grimmen Rhinozeros unter die Hufe gekeilt worden sein. Tralfamadorianer würden sie entführt und ihrerseits in einen Alienzoo gesperrt haben können, wo sie wegen nicht artgerechter Haltung und mangelnder Paarungsmöglichkeiten der Schwermut anheimgefallen und schließlich eingegangen wäre. Oder sie könnte auf dem Nachhauseweg dem Knochenmann begegnet sein, der, als sie sich mit dem Fahrrad an ihm vorbeizumogeln suchte, sie artig grüßte, aber seinen Diener tolpatschigerweise in dem Moment machte, als sie, den Kopf zur Seite reckend, um unbeschadet unter dem Sensenblatt durchzupassen, ihm die Kehle bot. Oder sie könnte in der Eilenriede eine Schnabeltasse gefunden haben, die unter einer Eichenwurzel steckte, und wie sie die geöffnet hätte, wäre der Geist herausgefahren und hätte ihr den Nacken gebrochen, wie es seines Amtes ist.

Es sei, wollte ich gerade anheben zu sagen, aber allemal schneller als ich, fügte der Nachbar hinzu, es hätte auch sein können, daß der Vogel Roch und sein Junges Felsbrocken herbeigetrage hätten, um sie auf ihren Twingo zu schmeißen. Oder ein grobianischer Patient, nicht so zartfühlend und menschenfreundlich wie er, der Nachbar, hätte statt der Teewurstschnitte die Nachtschwester zusammengeklappt und zum Fenster hinausgeworfen, und die Teewurstschnitte hinterdrein.

Es sei, probierte ich es noch einmal, aber wiederum ohne Erfolg.

Oder aber beim Zelten hätte die Milch überkochen können, die Campinggasflamme wäre erloschen, beim hektischen Griff zur Gaskartusche wäre die brühheiße Milch über ihre Beine gelaufen, sie hätte gestrampelt und geschrien, die Heringe hätten sich gelockert, eine Böe hätte unter das Zelt gefaßt und es emporgehoben, das Gestänge hätte sich selbständig gemacht, alles wäre voll Milch gewesen, die Feste der Erde hätte gebebt, die Sonne sich verfinstert, ein Flüssiggaslastwagen wäre auf den Campingplatz gerast und explodiert, um die siebte Stunde wäre es stockfinster geworden, der fünfte Engel hätte posaunt, die Erstgeburt wäre vernichtet worden, die Felder kahlgefressen, die Polkappen geschmolzen und ein Tier mit sieben Köpfen und 10 Hörnern wäre aus dem Meer gekrochen und Außenminister geworden, und als sie endlich ihre Beine frei gestrampelt hätte, wäre sie vor dem Zelt auf eine Schlange getreten, die ihr, noch ehe sie ihr den Kopf habe zertreten können, in die Ferse gestochen habe, und wegen der Apokalypse wäre nicht gleich ein Taxi zu haben gewesen, und als sie die Pistole hervorgekramt hätte, um sich eine Patrone herauszunehmen, sie aufzubeißen, das Pulver in die Wunde zu schütten und sie auszubrennen, da hätte sich versehentlich ein Schuß gelöst und exitus.

Es sei, quetschte ich endlich dazwischen, langsam mal gut.

Oder aber der Teufel hätte sie geholt, sagte der Nachbar, der es nicht schätzt, wenn er unterbrochen wird, kurz angebunden. Müsse alles nicht sein, wolle man nicht hoffen, sei aber auch nicht auszuschließen.

Was man auch nicht hoffen wolle, allerdings auch nicht ausschließen könne, sei, daß sie mittlerweile Hausdame im Seniorenhof St. Martinszentrum geworden sei. Müsse nicht sein, aber die Tatsache, daß dort in einem Kühlschrank Teewurst gelagert worden sei, spreche eine deutliche, eine häßliche, eine krächzende Sprache. Wer werde Teewurst in einem Kühlschrank lagern, wenn nicht der, der vorhabe, sie auch zur Anwendung zu bringen? Und wem sähe es gleicher, wehrlosen Alten, harmlosen Seniorenheimern, die nichts weiter mehr vom Leben zu erwarten hätten als ein herzhaftes Frühstück, dieses vorzuenthalten und ihnen statt Eiern mit Speck trauriges Graubrot mit Teewurst zu servieren, wem sähe das gleicher als Ingeborg?

Es solle ihn nicht wundern, sagte der Nachbar, wenn sich im St. Martinskühlschrank, Haager Landkriegsordnung hin, Haager Landkriegsordnung her, sogar Milch fände.

Ein Kommentar zu “Nachtschwester Ingeborg

  1. Als nächtens ich dies Drama las, im Realen nur vermeintlich, im Lesen bittere Wahrheit, konnte mein bedarftes Gemüt nicht umhin, Nachtschwester Ingeborg göttlichen Beistand zu erbitten. Der dargestellten Möglichkeiten, Qual, Tod und Schlimmeres zu erleiden, mußten meine Fürbitten ins Gegenteil fliehen.

    Selbst meine, vormals kindliche Seele mußte Qualen, ähnlich der Ihres Nachbarn erdulden. Zu meiner Rechtfertigung, seelische Mißstände ertragender zu erdulden sei gesagt, daß ähnliches, wie es Ihrem Nachbarn widerfuhr, mich erst im gereiften Kindesalter von zehn Jahren ereilte.

    Als reifer Patient ertrage ich heute Nachtschwestern vom Schlage einer Ingeborg mit der stoischen Gelassenheit und dem helfenden Wissen, eine Beretta unter groben Krankenhausdaunen zu lagern.

    Bisher, und das würde ich Ihrem Nachbarn ans Herz legen, reicht es, bei Nachtschwestern einen neun Millimeter Herzkatheter zu erwähnen. Sie können ihm anvertrauen, daß in der Genfer Konvention – der ersten – nichts über Mitführgewohnheiten offensiver Wehrgeräte zu finden ist. Es soll ihm, dem Nachbarn, ein Gefühl defensiver aber doch reichlich vorhandener Stärke im Kampf gegen Viren, Bazillen oder OP-Messer – und auch Nachtschwestern – sein.

    Als letzten Rat an Ihren Nachbarn: Vielleicht helfen vorher auch Fürbitten.


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