Erderwärmung

Es habe, sagt mein Nachbar, sich das Klima zwischen ihm, dem Nachbarn, und den Bewohnern des Seniorenheims am Ende der Straße, erheblich abgekühlt. Es sei darüberhinaus im Begriff, sich noch weiter abzukühlen, und zwar umso mehr, je mehr Schnee er, der Nachbar, vom Bürgersteig, oder solle er sagen: vom Seniorensteig? räumen müsse.

Es muß in den Tagen des Großen Schnees gewesen sein, denn in meiner Erinnerung hat mein Nachbar einen Schneeschieber in den Fingern, den er während des Sprechens zur Unterstreichung des Gesagten benutzte. In seinen Händen wirkte das Werkzeug nicht viel größer, als die selbstgedrehte Zigarette, ohne die man ihn nicht kennt, und die er ebenfalls virtuos zu führen weiß.

Als ich zu ihm stieß, meiner Räumpflicht nachzukommen, sah ich, daß er tatsächlich sowohl Schneeschieber, als auch Zigarette in den Fingern hielt, und anscheinend keine Schwierigkeiten hatte, beide auseinanderzuhalten.

Nichts, sagte mein Nachbar, gegen den Schnee als solchen. Auch nichts, fügte er hinzu, gegen den Senioren als solchen. Er sei dem gemeinen Seniorenheimer gemeinhin nicht feindlich gesinnt. Wenn aber noch einer – einer, wiederholte mein Nachbar, wobei er einen kaum merklichen stimmlichen Nachdruck auf das ‚ei‘ in ‚einer‘ legte, aber mit Hilfe des Schneeschieberstiels die Silbe deutlich unterstrich – wenn noch einer vorbeikomme, während er, der Nachbar, Schnee schaufele, und wenn auch dieser eine – wieder die kaum merkliche Betonung, diesmal auf dem ‚die‘ in ‚dieser‘ – wenn auch dieser eine sich nicht entbreche, ihm, dem Nachbarn, die Arbeit mit der Bemerkung „und das trotz des angeblichen Klimawandels“ zu vergällen, wobei er einen kaum merklichen, aber deutlich ironischen Akzent auf das ‚angeblich‘ lege, dann werde der Nachbar die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen wissen.

Der Schneeschieberstiel bestätigte das.

Dann werde er bei den zuständigen Stellen darum einkommen, daß sich dieser ehrwürdige Greis den ehrwürdigen Oberschenkelhals brechen möge, ob links oder rechts, stelle er anheim. Das allerdings nicht auf des Nachbarn vorbildlich geräumtem Bürgersteigsegment, sondern auf einem der lausig geräumten Nachbarsegmente, meines etwa böte sich an. Das möge nicht schön von ihm sein, gab er zu, habe aber den Vorteil, daß dieser Seniorenheimer für den Rest des Winters als Kommentator ausfalle. Der könne dann ja seine Kritik an der Vermeintlichkeit des Klimawandels bei der Stationsschwester vorbringen und argumentativ am lauwarmen Krankenhauskaffee aufhängen.

Er habe, wie gesagt, wiederholte er, nichts gegen Senioren. Der gemeine Seniorenheimer sei, nach allem was wir wüßten, von Gott gewollt. Das sei allerdings der Eisregen, der Schnee, das ZDF und der Klimawandel auch. Das berechtige den Seniorenheimer nicht dazu, sich einem derart widerlich zu machen, daß man ihn ohne weiteres und gerne gegen vorgezogene Erderwärmung tauschen würde. Das Schlimme sei ja auch nicht seine Existenz. Das Schlimme sei die Kombination aus Eisregen zuunterst, Neuschnee darüber und dem Senior als Topping obendrauf. Das Schlimme sei die Invarianz von dessen Konversation. Oder von deren Konversation, sollte er besser sagen, denn heute morgen trete der Seniorenheimer im Plural auf. Bislang hätten alle gefühlten siebenundzwanzig Passanten – Passanten, sehr wohl gemerkt, die sich an 360 von 365 Tagen nicht vor 11 Uhr morgens auf der Straße blicken ließen, wenn überhaupt, die aber heute, angesichts und trotz oder wegen des Schnees allesamt vor 8 Uhr von dringenden Geschäften ins Freie gerufen worden seien – alle siebenundzwanzig hätten den nämlichen Spruch gemacht. Variantenfrei.

Es könne sich, gab ich zu bedenken, um einen Flashmob handeln.

Ach was, bügelte mein Nachbar den Vorschlag ab, denn er schätzt es nicht, wenn ich ihm Widerworte gebe – oder irgendjemand ihm Widerworte gibt, was das angeht. Dummes Zeug. Der Seniorenheimer beziehe sein Weltbild exklusiv aus dem ZDF. Das sei schon recht und gut, und besser, als wenn der Seniorenheimer sein Weltbild aus irgendwelchen Pisanerkanälen bezöge, wo Deutschland nach einem Superstar suche, anstatt, was Deutschland viel nöter täte, bessere Fernsehsender zu suchen. Denn dabeistehen, während sich junge Leute öffentlich zum Gespött machen, und sich für was besseres halten, nur weil man zwei Generationen früher geboren sei und dafür mit der halben Strafe – nur dabei statt mittendrin – davongekommen zu sein glaube, das sei so rechte Seniorenart.

Selbst Zeitungen, fuhr der Nachbar fort, würden im Seniorenheim mit Mißtrauen gesehen. Sie würden dort, zurecht oder zuunrecht, mit Lesen in Verbindung gebracht, was die Senioren an deren eigene Pisazeit erinnere, und daher negativ konnotiert sei. Rundfunk bestehe entweder aus Pisanermusik oder aus Wortbeiträgen und sei daher, so oder so, vom Teufel. Einen Flashmob kenne der Seniorenheimer bestenfalls aus dem heute-journal, und bei dem habe er gerade ein Nickerchen gemacht. Nein, die Koinzidenz sei purer Einfallslosigkeit zuzuschreiben, Einfallslosigkeit gepaart mit der Seelenruhe desjenigen, dessen Füße bei einer ihm nachfolgenden Sintflut nicht mehr naß werden würden, gepaart mit der Besserwisserei dessen, der es gerade nötig habe.

Das seien aber drei, flocht ich ein, bei dreien könne man strenggenommen nicht mehr von Paarung reden.

Tue er auch nicht, fuhr mir der Nachbar über den Mund und dräute mit der Schneeschieberblatt. Von Paarung sei keine Rede, er rede von Unzucht. Denn woher habe der zeitgenössische Senior seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse? Und wie sei er in deren Besitz gelangt? Auch nicht anders, als Schwiegeropi in den Besitz seines Führerscheins. – Ob er mir einmal erzählt habe, wie Schwiegeropi den Führerschein bekommen habe?

Mehrfach. Aber das mußte ihn ja nicht davon abhalten, es ein weiteres Mal zu erzählen.

Tat es auch nicht. Schwiegeropi, zu Zeiten des Nachbarn Landgerichtspräsident i.R., heute nicht mehr unter uns, war in Prä-Nachbarzeiten allerdings noch kein Landgerichtspräsident gewesen, allenfalls Landgerichtspräsident in spe, d.h. später war er schon Landgerichtspräsident, als nämlich der Nachbar als Schwiegerenkel zwar schon am Horizont dämmerte, aber streng genommen noch nicht Schwiegerenkel war. Es hatte aber eine Zeit gegeben, in der Schwiegeropi simpler Assessor, und der Nachbar definitiv noch kein Schwiegerenkel, sondern gar nicht auf der Welt gewesen war. Und in dieser Zeit hatte Schwiegeropi seinen Führerschein bekommen, und zwar durch Beschluß. Bzw. durch Erlaß. Falls es da einen Unterschied gab.

Und ob! bekräftigte der Nachbar, jegliche tieferschürfende Nachfrage allerdings mit einer Geste seines Schneeschiebers unterbindend. Durch Erlaß. Es habe nämlich dem seinerzeitigen Justizminister geschwant, daß Schwiegeropi und die anderen Assessoren im modernen Nachkriegsdeutschland einer intimen Kenntnis der Nürnberger Gesetze nicht mehr so notwendig bedürften, wie noch wenige Jahre zuvor, als sie dieselben an der Universität mächtig hätten bimsen müssen, sondern statt dessen lieber Auto fahren können sollten. Denn wie es der Deubel wolle, müßten sie vielleicht mal als Landgerichtspräsidenten einem Verkehrssünder die bürgerlichen Ehrenrechte aberkennen, und dann solle sie wissen, was sie tun, und ihrem Justizminister keine Schande machen.

Also sei ein Bus gechartert worden, die Assessoren hineingesetzt, ein Fahrlehrer habe erklärt, was Zwischengas sei, und habe seine Schüler anderthalb Stunden über den Ruhrschnellweg chauffiert. Anschließend hätten alle Teilnehmer ihren Führerschein bekommen, Klasse II, mit Personenbeförderungsschein, weil es ja ein Bus gewesen war.

Die Geschichte kannte ich bereits, neu war mir, wie Schwiegeropis Lateinlehrer zur Lehrbefähigung im Fach Englisch gekommen war. Da war er eines Tages zum Rektor gerufen worden, ein Donnerstag war es gewesen, und hatte erfahren, daß er ab morgen, einem Freitag, Englisch unterrichten werde, da es im modernen Nachkriegsdeutschland, nicht zuletzt der Besatzung wegen, einen gestiegenen Bedarf an Englischkenntnissen gebe, im Gegensatz zu vor ein paar Jahren, als man mit den Nürnberger Gesetzen ausgekommen sei.

Den Einwand von Schwiegeropis Lateinlehrer, er sei Humanist und spreche keine lebenden Sprachen, habe der Rektor nicht zugelassen, sondern gesagt: Herr Kollege, eins wollen Sie sich bitte merken, den Satz, „ich kann nicht“, möchte ich an meiner Anstalt nicht hören, weder in einer toten, einer lebenden, noch in sonst einer Sprache. Heute ist Donnerstag, ich gebe Ihnen bis Montag frei. Am Montag melden Sie sich bei mir und können Englisch.“

Und, wollte ich wissen, habe Schwiegeropis Lateinlehrer am Montag Englisch gekonnt?

Wie man’s nehme, sagte der Nachbar, und schaufelte müßig ein bißchen Schnee in den Rinnstein. Jedenfalls habe er am Montag Schüler unterrichtet, in was auch immer. Und diese Schüler – er deutete mit dem Schieber in Richtung Seniorenheim – seien die Senioren von heute.

Zufrieden angelte er sich sein Bantampäckchen, drehte sich, ohne den Schneeschieber auch nur in die andere Hand zu nehmen, eine Zigarette, fand ein Feuerzeug und setzte sie in Brand, den Klimawandel mit kleinen, beschränkten Mitteln, aber unverdrossen, unterstützend.

Der Senior, der im Jahre 2009 im biblischen Alter sei, sei um das Jahr 1935 geboren worden und bei Kriegsende im besten Pisaneralter gewesen. Da habe man an der Bürgerschule normalerweise Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Latein und den ganzen Schamott gekriegt. Nicht so unser Senior, der 1945 erstmal frei gehabt habe, dann keine Lehrer, weil die Lehrerschaft zum Teil durch die Nürnberger Gesetze dezimiert worden, zum Teil durch Kriegsfolgen dauerhaft oder vorübergehend an Lehrtätigkeit verhindert gewesen sei. Bis zur Oberstufe habe er ohnehin nur auf die Kartoffelferien zugelebt und -gelernt, in der Oberstufe dann die Erfahrung gemacht, daß sich das Fortkommen durch Erlaß sehr viel effektiver gestaltete, als das Fortkommen durch eigenes Bemühen, siehe Schwiegeropis Führerschein. Die – ebenfalls durch Erlaß – als Lehrerersatz rekrutierten kaisertreuen Offiziere hätten ihn darüberhinaus gelehrt, daß fundierte Kenntnisse auf welchem Sachgebiet auch immer im wesentlichen eine Frage der Disziplin waren („Am Montag melden Sie sich bei mir und können Klima!“), und daß Wetterkunde ein zwar unverzichtbares Hilfsmittel zur Kriegsführung war, aber eben deshalb auch nicht Fachleuten überlassen werden durfte, ebensowenig wie der Fußball dem Josef Herberger.

Das alles mache den Senioren zum Fachmann in Klimafragen. Man brauche nur ein kleines Steinchen in eine Ansammlung von Seniorenheimern zu werfen, etwa die Frage, ob Abendrot der Vorbote guten Wetters oder schlechten Wetters sei, so bekomme man alle möglichen Antworten auf diese Frage, einige unmögliche auch, sowie zusätzlich noch ein paar Antworten auf Fragen, die man nicht gestellt habe, ferner zwei, drei allgemeine Lebensweisheiten sowie den Ausdruck fester Überzeugung, daß das Wetter heute nicht mehr das sei, das es früher einmal gewesen war, als man den Sommer über noch habe barfuß laufen können, während man heute nicht einmal mehr ohne Puschen aus dem Zimmer ins Bad gehen möge, das zeige doch schon, daß an dem Gerede vom Klimawandel nichts dran sei.

Denn der Effekt der seinerzeitigen Lehrkörperverknappung auf das Mikroklima im Seniorenoberstübchen sei verheerend gewesen. Der vielgebrauchte und vielmißbrauchte und vor allen Dingen mißinterpretierte Begriff „Wirtschaftswunder“ besage nämlich eigentlich, daß es ein Wunder sei, daß die wirtschaftliche Restauration mit diesem Haufen Notabiturienten überhaupt gelungen sei, und nicht, wie fälschlich angenommen, daß sie besonders gut gelungen sei. Wer in der Schule gelernt habe, einen Rechenschieber festzuhalten ohne ihn zu zerbrechen, sei in jenen goldenen Jahren Ingenieur geworden, wer den Dreisatz beherrschte, Kaufmann, und wer von den drei Sätzen nur noch zwei wußte, immerhin noch Wirtschaftsminister. Wer gar nicht rechnen habe können, sei – getreu der Maxime judex non calculat – Landgerichtspräsident geworden, und einer, der das Wort Isobare richtig habe schreiben können, sei sofort vom ZDF als Wetterkartenmaler verpflichtet worden. Das gesamte Seniorenheim – er deutete jetzt mit dem Blatt des Schiebers, wobei er dessen Stiel am äußersten Ende gefasst hatte und ihn beinahe waagerecht in die Luft hielt, als handele es sich um nicht mehr als ein Sandkastenschäufelchen – das gesamte Heim würde heutzutage schon bei der Zugangsprüfung zum Pisatest durchfallen, wisse aber genau, daß die Enkel- und Urenkelgeneration nichts Gescheites mehr lerne, den Erlkönig nicht auswendig könne, die Bücher der Propheten nicht aufsagen, keine Schlachten, keine Geschichtszahlen, nicht kopfrechnen und sich nur auf ihre Taschenrechner verließe, wohingegen sie seinerzeit die Bundesrepublik aus dem Nichts wiederaufgebaut hätten, ohne Computer, ohne Taschenrechner, und allenfalls mit Hilfe eines Rechenschiebers.

Der Nachbar zog den Schneeschieber wieder an sich, warf noch ein paar Schaufeln Schnee auf den Haufen vor einem der hilflos gestrandeten PKW, besah zufrieden sein Werk und schadenfroh mein immer noch tiefverschneites Bürgersteigstück, zog den Tabak und drehte.

Dabei, fuhr er fort, seien die Zeiten lang vorbei, in denen Pisaner gewußt hätten, was ein Taschenrechner ist, und wenn man ihnen einen hinhalte, versuchten sie, damit zu telefonieren. Vorhin nun aber sei ihm eingefallen, wie er sich einen Spaß machen könne, und er habe aus seinem Fundus einen Rechenschieber geholt, er habe ihn hier in der Parkatasche. Er holte ihn hervor; es war ein niedliches kleines Gerät, um das man, wenn man es in den Fingern des Nachbarn sah, sich unwillkürlich Sorgen machte. Unerforderlicherweise allerdings, denn der, filigrane Zigarettchen gewohnt, handhabte es virtuos und geradezu zärtlich. Ein Ladies‘ Slide, sagte er, handtaschengeeignet. Flink ließ er die Zunge in den Körper hinein und wieder hinausgleiten. Damit man auf dem Weg zum Kongreß in der U-Bahn schnell noch einmal habe nachrechnen können, ob das Dach der Schwangeren Auster auch halten würde.

Was er denn damit vorhabe, wollte ich wissen.

Der Nachbar zwinkerte einäugig durch den Rauch. Ein bißchen komme er sich ja vor wie der Geist aus der Flasche, der geschworen habe, dem zufälligen und unschuldigen Entkorker den Hals zu brechen, aber wie der hilflos eingesperrte Geist habe auch er das Gefühl, daß es ihn erleichtern würde, wenn er dem nächsten vorbeikommenden Senior etwas antun könnte. Z.B. ihn beim Kragen nehmen und vor die Wahl stellen, entweder hier und jetzt den aktuellen Luftdruck – 991,2 hPa – von Torr in mmHg umzurechnen, und zwar mit Hilfe dieses Schieberchens, oder aber sich vom Nachbarn kopfüber in diese Schneewehe – er deutete mit dem Rechenschieber auf den Haufen vor dem eingeschneiten Rinnsteinparker – stecken zu lassen, oder aber, und das empfehle er, sich um seiner Gesundheit willen jedes Kommentars zum Klimawandel zu enthalten.

Nun aber, da er bewaffnet sei, scheine kein Seniorenheimer mehr kommen zu wollen. Schade. Er steckte das Instrumentlein zurück in die Parkatasche. Typisch. Brauche man mal einen, sei keiner da.

Er steckte die Kippe kopfüber in den Schneehaufen, schulterte den Schieber, und besah sich kopfschüttelnd meinen Bürgersteig. Der sehe ja übel aus. Ts.

Und sowas nenne sich nun Klimawandel.

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