Von der Schweiz lernen, sagte mein Nachbar, heiße siegen lernen. Jedenfalls wolle er das hoffen. Er setze geradezu darauf.
Denn wie jedermann wisse, sei er kein Freund italienischer Küche. Er blickte nicht aufmunternd in die Runde, denn er ist nicht der Typ, der aufmunternd in Runden blickt. Was er sagt, gilt auch ohne affirmative Gesten der Umsitzenden, wer will, kann zustimmend nicken, wer nicht, läßt es eben bleiben. Aber wie er es sagt, ist es so gut, als hätte er aufmunternd in die Runde geblickt, und alle hätten zustimmend genickt.
Alle - das waren außer mir nur Louis, der Wirt des Pilgrimhauses, und Christa, des Wirtes Töchterlein. Wenn er mit unseren Spaghetti fertig sein würde, würde sich auch Andi, der capocuoco, zu uns setzen und den dreien rauchen helfen. Nickte ich also innerlich betrübt: wohl wahr, der Nachbar war kein Freund der italienischen Gastronomie.
Insbesondere, fuhr dieser fort, sei er kein Freund des Rucolasalates mit feinen Speckwürfeln, Parmesanflocken und Vinaigrettesauce, von ihm aus auch ohne Vinaigrettesauce; und nichts gegen Parmesanflocken oder feine, gebratene Speckwürfel, aber der Rucola müsse nicht sein, und überhaupt Salat, der sei fast immer über. Von der Vinaigrettesauce gar nicht zu reden.
Louis faßte sich, wie fast immer, an den Kopf und schüttelte das hängende Gesicht, nicht ohne dabei weiterzurauchen, als werde das Rauchen am Stammtisch morgen verboten. Dabei ist es seit mehr als zwei Jahren verboten, ohne daß das Louis bislang einen Deut interessiert hätte. Innerlich nickte ich beifällig: ein Volk, das seine Wirte am Tresen nicht mehr rauchen läßt, ist es nicht Wert, Nation zu heißen.
Der Nachbar blickte mich strafend an: das sei doch wohl von ihm, wenn er sich nicht irre? Ich senkte den Kopf und ging in mich. Aber der Nachbar wollte über Vinaigrettesaucen reden und fuhr fort: was man von den Schweizern lernen könne, sei, wie man Volksgruppen vergräme, oder vergraule, nämlich mit ...
Vinaigrette? fragte Christa dazwischen, freilich ohne, wie ich, einen bösen Blick zu ernten, denn im Gegensatz zu mir darf sich Christa dem Nachbarn gegenüber alles erlauben, sogar Zwischenfragen. Wohlgefälligen Blicks bedachte der Nachbar sie mit einem "Dummchen". Mit Vinaigrette vergraule man zwar ihn aus italienischen Restaurants, aber er sehe sich nicht als Volksgruppe, und aus der Schweiz vergraule ihn nicht so sehr die italienische Küche, sondern die Schweiz. Nein, die Schweizer hätten eine Methode zur Muslimvergrämung gefunden, die der Analyse und der Nachahmung wohl wert sei.
Andi streckte seinen Kopf durch die Küchenklappe und sagte, die Spaghetti seien fertig, und ob wir noch was wollten, sonst habe er jetzt Feierabend. Der Nachbar bestellte noch weitere Parmesanflocken, und wenn da noch gebratene Speckwürfel seien, solle Andi sie nur gleich durch die Klappe reichen, nicht, daß sie morgen früh in den Abfall gerieten. Nämlich die Schweizer, fuhr der Nachbar, an die Runde gewandt fort, während Christa die Spaghetti herbeitrug, hätten den Muslimen nicht etwa die Tempel selbst - die Moscheen - verboten, sondern nur deren weithin sichtbare Symbolbauten - die Minarette.
Das aber habe ihn, den Nachbarn, inspiriert. Wie wäre es, habe er sich gefragt, wenn man den Gläubigen der italienischen Küche nicht etwa die Gourmettempel selber verbieten würde - das würde in der deutschen Intellektuellenschaft nur böses Blut machen - sondern deren weithin duftendes Symbol: die Vinaigrette?
Er kippte die Speckwürfel über den Teller, machte zwei, drei Bewegungen mit der Gabel, just soviele mit dem Kiefer, dann war der Teller leer. Was eigentlich, fragte er in Louis' Richtung, mit dem Zapfhahn sei? Sei der trockengefallen?
Louis schüttelte das Gesicht, und Christa sprang. Zufrieden leckte der Nachbar sich die Lippen und zog den Bantamtabak heran. Dann kramte er seinen Parka herbei. Dann zog er aus der Parkatasche einen Haufen Zettel. Dann fragte er, was eigentlich los sei, ob es mir nicht schmecke, oder warum ich immer noch in den Spaghetti herumstocherte? Ich erlaubte doch?
Da war die Zigarette allerdings schon an.
Er habe deshalb beschlossen, eine Volksbefragung zu starten, zu dem Thema, ob das Volk der Meinung sei, daß man in Deutschland ein Vinaigretteverbot erlassen sollte. Er hoffe, daß wir dieses Plebiszit reichlich unterstützen würden, und schob uns je einen Zettel hin, auch Andi, der eben in den Schankraum trat, von Christa ein Glas Rosé bekam, den Zettel überflog, und entgeistert fragte, was denn der Quatsch solle?
Das müsse er schon die Schweizer fragen, sagte der Nachbar zufrieden, paffte mächtig auf, trank vom Bier, lehnte sich zurück, faltete die Däumchen über dem Pansen und begann sie zu drehen: vor - zurück - vor.