Er werde mir, sagte mein Nachbar, der sich abfällig über die Mehrwertsteuersenkung für das Beherbergungsgewerbe geäußert hatte, zu mir, der ich ihn gefragt hatte, warum – er werde mir sagen, warum. Da habe nämlich in seinem Briefkasten – da, ich solle das mal halten …
Mit diesen Worten drückte er mir die zinkene Badewanne in die Hände, in der er sein Altpapier zum Schützenplatz zu tragen pflegt, wo es in die Container wandert. Warum in einer Zinkbadewanne, fragte ich, während er, bis zu den Ellbogen im Altpapier, in der Badewanne herumwühlte, woraufhin er im Wühlen innehielt und mich strafend anblickte: Was denn jetzt? Hotelgewerbe oder Zinkbadewanne? Wie oft er mir noch sagen müsse, daß ich ihn durch meine Sprunghaftigkeit aus dem Konzept brächte. Wieso denn bitteschön nicht in einer Zinkbadewanne? Auch nicht schwerer als ein Hering.
Er kramte dann weiter, äußerte sich noch mehrfach abfällig über die „Unsitte der Zwischenfragen“ und fand dann gottseidank endlich, wonach er gesucht hatte. Eine Ansichtskarte im DIN-A-4-Format, die er mir kurz hinhielt, sie aber sofort wieder umdrehte, um sich selbst in die Ansichtsseite zu vertiefen und nicht zu merken, wie mir die Arme schwer wurden.
Da habe ihm – er drehte die Karte wiederum kurz um, um den Poststempel zu prüfen – irgendwann vor Weihnachten das Grandhotel Bruckbeuren, in dem er einmal vor Jahren, als zweiter Preisträger eines Preisausschreibens um die dreisteste Lüge, einen zweiwöchigen Aufenthalt absolviert habe, eine Postkarte geschickt, eine Ansichtskarte, diese Ansichtskarte hier, im Format DIN-A-3, die ein Vermögen an Porto gekostet haben müsse, auf der man ihn dazu einlade, doch wieder einmal vorbeizuschauen und sich z.B. ein Wellness-Wochende um die Ohren hauen zu lassen, was er nicht vorhabe. Unterschrieben von Geschäftsleitung – einem Herrn Kühne -, sowie von einem Chefportier namens Polter im Namen des gesamten Teams. Einfach tierisch.
Kopfschüttelnd starrte mein Nachbar auf die Karte, dieweil meine Arme länger wurden.
Wo, wollte der Nachbar wissen, denn eigentlich meine Zwischenfrage bleibe?
Ich hätte zwar gerne gewußt, was für eine Zwischenfrage er meinte, traute mich aber nicht, zu fragen. Noch lieber wäre es mir aber gewesen, er hätte mir endlich die Badewanne wieder abgenommen. Doch dazu machte er keine Anstalten.
Es gehe auch ohne Zwischenfrage, sagte der Nachbar, warf die Ansichtskarte wieder in die Wanne und nutzte die Gelegenheit, seinen Tabak aus dem Parka zu ziehen. Ich hätte ihm die Wanne gern auf den Fuß fallen lassen, aber er war klug genug, weit genug entfernt Stand gefaßt zu haben; außerdem hätte ich es nicht mehr geschafft, meine eigenen Füße rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, und die Wanne mit Schwung in seine Richtung zu werfen, hätten meine Unterarme nicht mehr mitgemacht.
Also ließ ich es.
Der Nachbar stopfte Tabak und Blättchen in den Parka, brachte das Feuerzeug hervor, sog, pustete und nahm mir endlich die Wanne wieder ab.
In einer Zeit, in der das Männlichkeitsparadigma in die Wechseljahre gekommen ist – wie Radagast berichtet, ziehen in den Bahnhöfen Männer das, was man früher Handgelenktäschchen genannt haben würde, auf Rollen und an Teleskopgriffen hinter sich her – ist es herzwärmend zu sehen, mit welch lässiger Gebärde der Nachbar sich eine zinkene Babybadewanne voll Altpapier unter den rechten Arm klemmt und mit dem linken seelenruhig weiterraucht. Einen Schwächling hieß er mich. Zu meiner Zwischenfrage: da, wo die Hoteliers früher das Geld ihrer Kundschaft für Schlittenpartien und Lumpenbälle zum Fenster hinausgeworfen hätten – zum Gaudi der Kundschaft, die das ja so hätte haben wollen -, da werfe sie heute die Subventionen des Steuerzahlers – seine, des Nachbarn, Subventionen also – in den Gulli. Und wofür?
Ja, eben. Wofür denn nun eigentlich?
Ah, da sei sie ja endlich, die langersehnte Zwischenfrage, sagte der Nachbar, pustete und aschte in die Wanne. Für Rumänen.
Wofür? fragte ich perplex.
Oder Ukrainer, sagte der Nachbar. Weißrussen vielleicht. Oder Bulgaren. Angehörige eines Volkes jedenfalls, in dem ein Menschenleben wenig und menschliche Arbeitskraft nichts gelte.
Ich griff nun in die Wanne, holte die Karte hervor, um mir endlich selbst ein Bild zu machen. Es zeigte das Grandhotel unter einem frühabendlichen Winterhimmel, die Fenster von Lichtern innerhalb und außerhalb des Hauses in Gelbtöne getaucht, zugleich das Dunkelblau des Himmels wiederholend und spiegelnd, alles in allem nicht unanheimelnd, sondern Gediegenheit und gutes Abendessen versprechend. Rings um das Haus lag Schnee, nicht viel anders als hier, bloß sauberer und unzertrampelt.
Menschen waren nicht zu sehen.
Vor dem Haus aber standen, aus Schnee geknetete, von Strahlern im Vordergrund beleuchtete und entsprechende Schatten in den Abend werfende Schneebuchstaben eines Serifenfonts, die zusammen den Vor- und Nachnamen des Nachbarn bildeten.
Von Bulgaren, die vermutlich im Dachgeschoß in nicht beheizbaren Verschlägen hausen müßten, geknetet, dort aufgestellt und in Reih und Glied gebracht, sagte der Nachbar. Anschließend dürften sie, die Bulgaren, sich bemühen, den Schnee rings um die Buchstaben für das Photo wieder in den Stand der Jungfräulichkeit zu setzen. Das alles vieltausendmal, für alle Gäste, die vom Hotel je beherbergt worden waren, was eine Menge sein dürften, denn Laufkundschaft, die einmal dort gewohnt habe, sei von den immensen Kosten finanziell derart geschwächt, daß sie sich einen weiteren Aufenthalt auf Jahre hinaus nicht leisten könne.
Ich war skeptisch. Ich glaubte nicht recht, daß die Schneebuchstaben real waren. Selbst wenn man den Umgebungsschnee wieder so hingekriegt hätte, daß er aussah wie frisch gefallen, was ich auch schon nicht glaubte, ich weiß schließlich, wie es im Garten aussieht, wenn Jakob und Anna-Lena einen Schneemann geknetet haben, selbst dann würde man ja für jedes neue Photo wieder dieselben Lichtverhältnisse brauchen, und es wird an den Tagen vor Weihnachten ja schnell dunkel – das würde ja Jahre dauern – was hätte sowas denn wohl kosten sollen?
2,2 Milliarden, mindestens, sagte der Nachbar. Seine Steuersubvention.
Ebeneben, demnach war das hier doch sicher eine Bildbearbeitung. Wahrscheinlich hatte ein Photograph an einem besonders schönen Tag ein besonders schönes Photo vom Grandhotel gemacht, und der Schnee war dann mit Hilfe eines Computerprogramms in diese Buchstabenform gebracht worden. Eben wollte ich es dem Nachbarn vorschlagen, als der mir zuvorkam: Ich würde sicher einwenden wollen, daß das doch viel eher nach einem Photoshopjob aussehe, als nach Handarbeit. Er nahm das Wort Photoshopjob und kaute ein wenig darauf herum. Das klinge irgendwie pornographisch, befand er, nahm es aus dem Mund und legte es wieder weg.
Nun, das glaube er nicht. Photoshop sei ziemlich teuer. Die Bulgaren seien wahrscheinlich billiger.
Ich drehte die Karte um und las den Text. Tatsächlich, man forderte den Nachbarn auf, doch mal wieder vorbeizuschauen. Man habe ihm seine Suite reserviert, die Siamkatzen freuten sich auf ihn, und der heiße Ziegelstein liege schon bereit.
Wir waren am Schützenplatz angelangt. Der Nachbar betrat den ersten Container, der schon ziemlich voll war, drehte die Wanne um, und kam wieder heraus. Nachlässig steckte er die Wanne in die Parkatasche und warf den glimmenden Zigarettenstummel in den Container.
Das stimmt nicht ganz, er steckte die Wanne nicht in die Tasche. Es sah bloß so aus, denn in seinen Händen wirkt eine Wanne halt wie ein Wännchen. Möglicherweise hing sie an seinem kleinen Finger, als er sich im Gehen eine neue Zigarette drehte. Vielleicht war das aber auch nur das baumelnde Bantampäckchen, das er mit kleinem und Ringfinger am Latz hielt, während die drei großen das Drehen besorgten. Ich weiß es nicht mehr.
Was es denn mit diesem Ziegelstein auf sich habe, fragte ich den Nachbarn im Gehen.
Der pustete erst lange Rauch. Dann ließ er Tabak und Feuerzeug in die Tasche gleiten. Das erzähle er mir ein anderes Mal, sagte er, und nahm einen angeregten Zug. Das sei alles ein großes Mißverständnis gewesen.
Erst zuhause merkte ich, daß ich die Wanne in der Hand hatte.